Zusatzurlaub bei Schwerbehinderung

 | Gericht:  Bundesarbeitsgericht (BAG) Erfurt  | Aktenzeichen: 9 AZR 669/05 | Entscheidung:  Urteil
Kategorie Arbeitsrecht

Urteilstext

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 17. März 2005 - 21 Sa 120/04 - wird zurückgewiesen.

 

Die Beklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger weitere fünf Urlaubstage abzugelten hat.

 

Der 1969 geborene Kläger war vom 1. März 2003 bis 30. September 2004 bei der Beklagten als Krankenpfleger in der Fünf-Tage-Woche beschäftigt. Er ist spätestens seit 2003 mit einem Grad von wenigstens 50 behindert. In § 8 des Arbeitsvertrags war der Urlaubsanspruch wie folgt geregelt:

 

“bis zum vollendeten 30. Lebensjahr 26 Arbeitstage

bis zum vollendeten 40. Lebensjahr 29 Arbeitstage

nach dem vollendeten 40. Lebensjahr 30 Arbeitstage.”

 

Bis zu seinem Ausscheiden am 30. September 2004 hatte der Kläger für das Jahr 2004 keinen Urlaub erhalten. Bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses galt die Beklagte 28 Urlaubstage ab. Damit war der Kläger nicht einverstanden und forderte die Beklagte vergeblich auf, weitere sechs Urlaubstage abzugelten.

 

Mit seiner Klage hat der Kläger, soweit für die Revision von Interesse, unter Berufung auf den gesetzlichen Zusatzurlaub von fünf Tagen nach § 125 SGB IX beantragt,

 

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 506,28 Euro zu zahlen.

 

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

 

Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist unbegründet.

 

Der Kläger hatte am 1. Januar 2004 Anspruch auf den im Arbeitsvertrag vereinbarten Urlaub von 29 Arbeitstagen erworben. Diesem Urlaub ist der schwerbehindertenrechtliche Zusatzurlaub von fünf Arbeitstagen hinzugetreten. Bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2004 hätte die Beklagte daher insgesamt 34 Tage Urlaub abgelten müssen. Der nicht abgegoltene Zusatzurlaub ist während ihres Verzugs am 31. Dezember 2004 erloschen mit der Folge, dass sie dem Kläger Ersatz in Höhe des rechnerisch unstreitigen Klagebetrags von 506,28 Euro schuldet.

 

I.

Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus § 275 Abs.1, Abs. 4, § 280 Abs. 1, Abs. 3, § 283 Satz 1, § 286 Abs. 1 Satz 1, § 249 Abs. 1 BGB.

 

1.

Nach der in § 8 des Arbeitsvertrags festgelegten Altersstaffel konnte der Kläger für das Jahr 2004 29 Urlaubstage beanspruchen. Nachdem der Kläger die Wartezeit von sechs Monaten (§ 4 BUrlG) erfüllt hatte, ist dieser Urlaubsanspruch am 1. Januar 2004 in voller Höhe entstanden (st. Rspr. seit BAG 28. Januar 1982 - 6 AZR 571/79 - BAGE 37, 382) . Da der Kläger erst in der zweiten Hälfte des Jahres 2004 ausgeschieden ist, hat sich der Urlaub auch nicht nachträglich verkürzt (§ 5 Abs. 1 BUrlG).

 

2.

Weitere fünf Urlaubstage ergeben sich für den in der Fünf-Tage-Woche beschäftigten Kläger aus § 125 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz SGB IX. Insgesamt konnte damit der Kläger eine Urlaubsdauer von 34 Urlaubstagen (Gesamturlaub) beanspruchen.

 

a)

Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub. Auf diesen Zusatzurlaub sind die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden (st. Rspr. vgl. BAG 21. Februar 1995 - 9 AZR 166/94 - BAGE 79, 211; 25. Juni 1996 - 9 AZR 182/95 - BAGE 83, 225) . Der Kläger wird als Arbeitnehmer beschäftigt. Er ist mit einem GdB von wenigstens 50 schwerbehindert im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX. Sein Anspruch auf Zusatzurlaub ist mithin ebenfalls am 1. Januar 2004 entstanden.

 

b)

Dieser Zusatzurlaub ist dem von den Parteien arbeitsvertraglich vereinbarten Erholungsurlaub von 29 Arbeitstagen hinzugetreten. Er hat nicht lediglich den gesetzlich für Arbeitnehmer geregelten Mindesturlaub nach § 3 BUrlG (24 Werktage = 20 Arbeitstage) aufgestockt. Die Dauer des Urlaubs, den der Arbeitnehmer ohne Behinderung beanspruchen könnte, hat sich um die Dauer des Zusatzurlaubs auf insgesamt 34 Arbeitstage verlängert (Gesamturlaub). Das haben die Vorinstanzen zu Recht erkannt.

 

aa)

Das Bundesarbeitsgericht hat schon zu § 33 SchwBeschG idF vom 16. Juni 1953 erkannt, der “natürliche Anknüpfungspunkt für den Zusatzurlaub des Schwerbeschädigten ist ... derjenige Urlaub, den ein nicht schwerbeschädigter Arbeitnehmer unter sonst gleichen Bedingungen und Voraussetzungen erhält” (10. Februar 1956 - 1 AZR 76/54 - BAGE 2, 317) . Es hat seine Rechtsprechung in der Folgezeit wiederholt bestätigt (4. Oktober 1962 - 5 AZR 2/62 - BAGE 13, 228 zu § 34 des Schwerbeschädigtengesetzes idF vom 14. August 1961) . Hieran hat es auch nach der Erweiterung des geschützten Personenkreises auf alle Behinderten mit einem Grad von mindestens 50 vH ohne Rücksicht auf den Grund der Behinderung durch das SchwbG 1974 festgehalten (vgl. BAG 23. Juli 1981 - 6 AZR 898/78 - AP SchwbG § 44 Nr. 2 = EzA SchwbG § 44 Nr. 2) . Von dieser Aufstockung des Grundurlaubs durch den Zusatzurlaub (vgl. BAG 6. März 1964 - 5 AZR 259/63 - BAGE 15, 284) ist das BAG auch in seinen Entscheidungen zu § 47 SchwbG 1986 ohne weiteres ausgegangen (vgl. Senat 8. März 1994 - 9 AZR 49/93 - BAGE 76, 74; 21. Februar 1995 - 9 AZR 166/94 - BAGE 79, 211) .

 

bb)

Für den seit dem 1. Juli 2001 in § 125 SGB IX unter der Überschrift “Zusatzurlaub” geregelten zusätzlichen Urlaub schwerbehinderter Menschen gilt nichts anderes.

 

(1)

Das ergibt schon der Wortlaut. Nach allgemeinem Sprachverständnis wird unter “Zusatz” eine Zutat verstanden. Einer bereits vorhandenen Menge wird etwas hinzugefügt. “Zusätzlich” bedeutet nichts anderes als “außerdem” oder “extra”. Geht es um die Begründung eines “zusätzlichen” Anspruchs, so setzt das notwendig einen bereits bestehenden Anspruch voraus. An diesen knüpft die zusätzlich zu gewährende Leistung an. Hat der Arbeitnehmer Anspruch auf mehr Urlaubstage als gesetzlich bestimmt, so kann von einem “zusätzlichen” Urlaub nur dann gesprochen werden, wenn er dem Urlaub hinzutritt, den der Arbeitnehmer ohne seine Behinderung verlangen kann.

 

(2)

Anhaltspunkte, der Gesetzgeber habe - trotz zu unterstellender Kenntnis von der höchstrichterlichen Rechtsprechung - bei der Überführung des § 47 SchwbG 1986 in § 125 SGB IX lediglich an den gesetzlichen Mindesturlaub anknüpfen wollen, bestehen nicht. In der Vorschrift selbst wird nicht auf § 3 BUrlG verwiesen. Deshalb geht auch der Vergleich der Beklagten mit dem Urlaub der Jugendlichen im Bergbau unter Tage fehl. Der den im Bergbau unter Tage beschäftigten Jugendlichen nach § 19 Abs. 2 Satz 2 JArbSchG zustehende “zusätzliche” Urlaub von drei Werktagen nimmt auf die in § 19 Abs. 2 Satz 1 JArbSchG aufgeführte Altersstaffel von 25 bis 30 Werktagen Urlaub Bezug.

 

(3)

Die Revision verkennt die Systematik der gesetzlichen Regelung. Sie meint, sachlich handele es sich bei § 125 SGB IX um eine den Mindesturlaub für Arbeitnehmer regelnde Vorschrift, die nur im Interesse einer einheitlichen Kodifikation in das SGB IX aufgenommen worden sei. An dieser Erwägung ist richtig, dass der Gesetzgeber die für bestimmte Arbeitnehmergruppen geltenden Urlaubsbestimmungen in den speziellen Schutzgesetzen geregelt hat (beispielhaft: § 17 BErzGG, § 17 MuSchG, § 19 JArbSchG, § 4 ArbPlSchG). Das mag auch dem von der Beklagten hervorgehobenen Anliegen geschuldet sein, die Rechte und Pflichten der besonders geschützten Personengruppen zur besseren Lesbarkeit in Schutzgesetzen zusammenzufassen. Die Beklagte übersieht jedoch, dass § 125 SGB IX keine spezifisch arbeitsrechtliche Vorschrift ist. Anspruch auf den gesetzlichen Zusatzurlaub haben vielmehr alle schwerbehinderten Menschen, die als Beschäftigte Anspruch auf Erholungsurlaub haben. Erfasst werden mithin nicht nur schwerbehinderte Arbeitnehmer, sondern auch die schwerbehinderten Menschen, die in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis stehen. Für Beamte, Soldaten oder Richter scheidet ein Rückgriff auf den für Arbeitnehmer geltenden Mindesturlaub nach § 3 BUrlG aus.

 

(4)

Die von der Revision befürwortete teleologische Betrachtung führt zu keinem anderen Auslegungsergebnis. Ausgehend von dem gesetzgeberischen Grund der Einführung des gesetzlichen Erholungsurlaubs meint sie unter Hinweis auf die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung vom 4. November 2003 (ABl. EG Nr. L 299 vom 18. November 2003 S. 9), eine vierwöchige bezahlte Freistellung werde als ausreichend angesehen, um dem Interesse des Arbeitnehmers an Erholung und Erhaltung seiner Arbeitskraft Rechnung zu tragen. Dem werde gerecht, wenn der Zusatzurlaub lediglich den Mindesturlaub aufstocke. Mit dieser Argumentation blendet die Beklagte jedoch den mit dem Zusatzurlaub verfolgten Zweck aus. Ihm liegt die Vorstellung zu Grunde, dass der auf Grund seiner Behinderung im Erwerbsleben benachteiligte Beschäftigte eine längere Unterbrechung seiner Arbeitszeit benötigt als ein nicht behinderter Beschäftigter. Die erhöhte Urlaubsdauer soll seine Benachteiligung ausgleichen und damit seine Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu den nicht behinderten Beschäftigten sichern (vgl. schon BAG 10. Februar 1956 - 1 AZR 76/54 - BAGE 2, 317) . Dieses Ziel wird nur erreicht, wenn der Schwerbehinderte tatsächlich mehr Urlaub erhält als die im Betrieb beschäftigten nicht behinderten Beschäftigten.

 

(5)

Dieses Verständnis des Zusatzurlaubs führt entgegen der Revision nicht zur Rechtsunsicherheit. Ist die Urlaubsdauer weder arbeitsvertraglich geregelt noch insoweit tarifvertragliche Bestimmungen anzuwenden, so sichert § 3 BUrlG den “Grundurlaub” dem der Zusatzurlaub hinzutritt. Werden ohne ausdrückliche einzelvertragliche Regelung betrieblich mehr als 24 Werktage gewährt, ist dieser Urlaub für den schwerbehinderten Menschen der Grundurlaub, dem der Zusatzurlaub hinzutritt. Sollte nach dem von der Beklagten gewählten Beispiel ein Arbeitgeber Urlaub mit unterschiedlicher Dauer gewähren, so hat der schwerbehinderte Arbeitnehmer Anspruch auf den Grundurlaub, den “seine” Gruppe erhält. Zusätzlich ist ihm Urlaub nach § 125 SGB IX zu gewähren.

 

(6)

Die Erwägung der Beklagten, sie habe die “gesetzliche Vorgabe” des Mindesturlaubs beachtet, weil sie mit dem Kläger einen Erholungsurlaub von 29 Arbeitstagen vereinbart habe, geht fehl. Diese vertraglich vereinbarte Urlaubsdauer konnte der Kläger auch ohne Schwerbehinderung beanspruchen.

 

3.

Die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. September 2004 hat die Höhe des dem Kläger insgesamt zustehenden Urlaubs von 34 Tagen unberührt gelassen (§ 5 Abs. 1 BUrlG). Die Beklagte hätte daher bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses den noch nicht gewährten Urlaub nach § 7 Abs. 4 BUrlG abgelten müssen. Sie hat wegen des von ihr zu vertretenden Erlöschens des Abgeltungsanspruchs am 31. Dezember 2004 Schadensersatz in Höhe des Abgeltungsbetrags nach Maßgabe der allgemeinen Vorschriften über den Schuldnerverzug zu leisten (§ 275 Abs. 1, Abs. 4, § 280 Abs. 1, Abs. 3, § 283 Satz 1, § 286 Abs. 1 Satz 1, § 249 Abs. 1 BGB).

 

II.

Die Beklagte hat die Kosten ihrer erfolglosen Revision nach § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.


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