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Zulässigkeit einer Klage auf Feststellung der Leistungspflicht für die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung

 | Gericht:  Bundesgerichtshof (BGH) Karlsruhe  | Aktenzeichen: IV ZR 131/05 | Entscheidung:  Urteil
Kategorie Schadenersatzrecht

Urteilstext

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 12. Mai 2005 aufgehoben.

 

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

 

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz nur noch über die Verpflichtung des beklagten Krankenversicherers, der an einer Fehlstellung der Zähne leidenden Klägerin für die in einem Heil- und Kostenplan ihres Kieferorthopäden beschriebene Behandlung Versicherungsschutz zu gewähren.

 

Dem zwischen ihnen bestehenden Krankheitskostenversicherungsvertrag liegen neben Allgemeinen Versicherungsbedingungen (MB/KK 94) Tarifbedingungen (TB) der Beklagten zugrunde. Nach dem vereinbarten Tarif 741 hat sie der Klägerin unter anderem 75% der Kosten für kieferorthopädische Leistungen zu erstatten.

 

Der von der Klägerin aufgesuchte Kieferorthopäde empfahl zunächst einen zur Behandlung ihrer mandibulären Retrognathie bzw. maxillären Prognathie (ganzseitige Vorlage des Oberkiefers bzw. Rücklage des Unterkiefers) üblichen kieferchirurgischen Eingriff im Rahmen einer so genannten KFO-KCH-Therapie, den sie aber wegen negativer Erfahrungen bei einer 2001 durchgeführten Operation ablehnte. Darauf schlug er eine rein kieferorthopädische Therapie mit voraussichtlicher Dauer von 12 Quartalen vor und erstellte einen kieferorthopädischen Behandlungsplan, wonach sich die veranschlagten Kosten für die im Einzelnen vorgesehenen Behandlungsmaßnahmen mit ihren jeweiligen Kostenansätzen insgesamt auf 5.596,95 € belaufen.

 

Nach Vorlage des von der Beklagten zur Prüfung der Leistungspflicht geforderten Heil- und Kostenplanes lehnte diese die von der Klägerin erbetene Deckungszusage ab, weil die in Aussicht genommene Behandlung ohne chirurgischen Eingriff nicht Erfolg versprechend sei.

 

Die Vorinstanzen haben die Feststellungsklage auf bedingungsgemäße Übernahme von 75% der im Heil- und Kostenplan ausgewiesenen Kosten abgewiesen. Mit der insoweit vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin, die inzwischen mit der Behandlung begonnen hat, ihr Feststellungsbegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

 

I.

Das Berufungsgericht hält - im Gegensatz zum Amtsgericht - die Feststellungsklage für zulässig. Die Klägerin habe ein rechtliches Interesse, durch die begehrte Feststellung Sicherheit dafür zu bekommen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr die Kosten für die nach ihrer Darstellung medizinisch notwendigen Behandlungsmaßnahmen des Heil- und Kostenplans zu erstatten.

 

Die Klage sei aber unbegründet, weil sich gegenwärtig nicht sicher sagen lasse, dass die ärztlich vorgesehenen Maßnahmen auch tatsächlich anfallen und sie sich dann auch als medizinisch notwendig erweisen würden. Das lasse sich erst im Nachhinein beurteilen; einen Anspruch auf Erteilung einer Deckungszusage im Vorfeld einer Behandlung enthalte die nachschüssig konzipierte Krankenversicherung der Klägerin nicht.

 

II.

Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.

 

Die Parteien streiten im Kern nur darüber, ob die im Heil- und Kostenplan ausgewiesene rein kieferorthopädische Langzeitbehandlung medizinisch notwendig ist. Das verneint die Beklagte, weil bei den extrem skelettalen und dentalen Abweichungen diese Behandlung zu keiner Funktionsverbesserung führen könne; letztere sei vielmehr nur über eine kombinierte kieferchirurgische/kieferorthopädische Therapie zu erreichen. Die Klägerin ist demgegenüber der Auffassung - gestützt auf die Angaben ihres behandelnden Arztes -, dass auch ohne vorherigen chirurgischen Eingriff die von ihm vorgeschlagenen kieferorthopädischen Korrekturmaßnahmen zu einer funktionell viel besseren Situation als der gegenwärtigen führen werden. Die bereits bei Erstellung des Behandlungsplanes gegebene aktuelle Behandlungsbedürftigkeit des bei der Klägerin bestehenden Beschwerdebildes steht außer Frage. Der bloße Streit, ob ein spezifisches, ärztlich vorgesehenes therapeutisches Vorgehen bei unstreitig unmittelbar gebotener medizinischer Versorgung von Beschwerden unter den Versicherungsschutz der hier genommenen Krankenversicherung fällt, kann Gegenstand einer Feststellungsklage sein; das gilt unbeschadet ihrer Rechtsnatur als Passivenversicherung. Gegen die Zulässigkeit der Feststellungsklage bestehen hier nach den gegebenen Umständen - wie das Berufungsgericht richtig sieht - keine Bedenken (1.). Ob sie begründet ist, lässt sich dagegen nicht - wie das Berufungsgericht annimmt - mit Blick auf einen noch nicht ganz sicher feststehenden Behandlungsverlauf verneinen und wird in solchen Fällen regelmäßig nicht ohne sachverständige Beratung zu beurteilen sein (2.).

 

1.

Inwieweit bei einer Krankheitskostenversicherung auf Feststellung der Eintrittspflicht des Versicherers für die Kosten einer Behandlung geklagt werden kann, wird unterschiedlich beurteilt.

 

a)

Ein Teil der instanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur lehnt dies wegen des Charakters dieser Versicherung als Passivenversicherung, die den Versicherer nur zum Ersatz bereits entstandener Kosten verpflichtet, grundsätzlich ab und zwar wegen der sich ständig ändernden organischen Abläufe im menschlichen Körper und der fortschreitenden medizinischen Entwicklung auch dann, wenn es nur um die Frage der medizinischen Notwendigkeit der Heilbehandlung geht. Ausnahmen werden lediglich in Betracht gezogen, wenn bereits von der Notwendigkeit einer konkreten Behandlungsmaßnahme ausgegangen werden könne - etwa aufgrund eines Heil- und Kostenplans - und wenn auf diese sonst verzichtet werden müsse (vgl. LG Gießen RuS 2000, 474; AG Berlin-Schöneberg RuS 1999, 520; OLG Köln RuS 1998, 125; OLGR Stuttgart 1998, 23; Schoenfeldt/Kalis in Bach/Moser, Private Krankenversicherung 3. Aufl. § 1 MB/KK Rdn. 88 und 4 m.w.N.).

 

Ein anderer Teil lässt demgegenüber, wenn die Behandlung noch nicht abgeschlossen ist, eine solche Klage grundsätzlich zu (vgl. OLG Schleswig VersR 2002, 428; LG Landshut NJW 2000, 2752; LG Berlin NVersZ 2000, 230; LG Aachen RuS 1998, 76; Prölss in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. MB/KK 94 § 1 Rdn. 70). Einschränkungen sollen indes gelten, wenn die Möglichkeit von Änderungen eines körperlichen Zustandes bestehe - wie etwa bei geplanten Krankenhausbehandlungen -, es sei denn, der Versicherungsnehmer würde dann einem unzumutbaren Kostenrisiko ausgesetzt (vgl. Prölss, aaO m. vielen w.N.).

 

Der Senat hat die Zulässigkeit von Feststellungsklagen dieser Art seit längerem jedenfalls dann bejaht, wenn die Feststellung ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis in dem Sinne betrifft, dass die zwischen den Parteien des Rechtsstreits bestehenden Beziehungen schon zur Zeit der Klageerhebung wenigstens die Grundlage bestimmter Ansprüche bilden. Das ist der Fall, wenn das Begehren nicht nur auf künftige, mögliche, sondern auf bereits aktualisierte, ärztlich für notwendig erachtete, bevorstehende Behandlungen gerichtet ist. Außerdem muss ein Feststellungsinteresse dahingehend bestehen, dass durch ein Feststellungsurteil eine sachgemäße und erschöpfende Lösung des Streits über die Erstattungspflichten zu erwarten ist (vgl. Senatsurteile vom 17. Dezember 1986 - IVa ZR 275/85 - VersR 1987, 280 betreffend den ersten Behandlungszyklus einer IVF-Behandlung; vom 23. September 1987 - IVa ZR 59/86 - VersR 1987, 1107 betreffend weitere Behandlungszyklen einer IVF-Behandlung; vom 13. Mai 1992 - IV ZR 213/91 - VersR 1992, 950 betreffend zahnprothetische Behandlungen und vom 16. Juni 2004 - IV ZR 257/03 - VersR 2004, 1037 betreffend Fortsetzung einer psychotherapeutischen Behandlung).

 

b)

An diesen Grundsätzen der Senatsrechtsprechung ist festzuhalten. Sie tragen auf der einen Seite den berechtigten Interessen des Krankenversicherers Rechnung, bei einer Passivenversicherung grundsätzlich nur zum Ersatz derjenigen Aufwendungen verpflichtet zu sein, die dem Versicherungsnehmer in Bezug auf das versicherte Risiko zur Erfüllung von Verpflichtungen aus berechtigten Ansprüchen Dritter erwachsen sind (BGHZ 154, 154, 158). Auf der anderen Seite bieten sie Versicherungsnehmern Schutz davor, ein für sie nicht abzuschätzendes Kostenrisiko eingehen zu müssen, obwohl eine medizinische Behandlung angesichts des Beschwerdebildes ärztlicherseits aktuell, unter spezifizierter Darstellung der geplanten Vorgehensweise für geboten erachtet und deswegen angeraten wird. In solchen Fallgestaltungen fehlt es weder an einem gegenwärtigen Rechtsverhältnis, das es zu klären gilt, noch an einem Feststellungsinteresse, das eine endgültige Streitbeilegung verspricht. Die finanziellen Verhältnisse eines Versicherungsnehmers spielen für die Entscheidung über die Zulässigkeit einer solchen Feststellungsklage keine Rolle.

 

c)

Danach bestehen hier gegenüber der von der Klägerin erhobenen Klage keine Zulässigkeitsbedenken.

 

Die Klägerin hat mit der Vorlage des Heil- und Kostenplans, der von der Beklagten zur Beurteilung ihrer Leistungspflicht sogar selbst angefordert worden ist, dargelegt, dass die darin vorgeschlagene Behandlung aus ärztlicher Sicht erforderlich ist. Mit der vorangegangenen ausführlichen Voruntersuchung ist diese Behandlung bereits eingeleitet worden (vgl. BGH, Urteile vom 14. Dezember 1977 - IV ZR 12/76 - VersR 1978, 271 unter II 1 und 20. Dezember 1956 - II ZR 8/56 - VersR 1957, 55 unter 1). Damit hat sich ihre Notwendigkeit in Bezug auf einen Erstattungspflichten auslösenden Versicherungsfall so weit verdichtet, dass sich aus dem Kreis der im Versicherungsvertrag allgemein angelegten vielfältigen Anspruchsmöglichkeiten ein das Feststellungsbegehren rechtfertigendes gegenwärtiges Rechtsverhältnis gebildet hat (vgl. Senatsurteil vom 13. Mai 1992 aaO unter I 2).

 

Von einem Feststellungsurteil ist auch zu erwarten, dass der bestehende Streit, ob für die in Aussicht genommene Behandlungsmethode Versicherungsschutz besteht, bereits jetzt sachgemäß und erschöpfend beigelegt werden kann. Dem damit gegebenen Feststellungsinteresse steht nicht - wie die Revisionserwiderung meint - entgegen, dass sich die maßgeblichen Umstände bis zur Durchführung der einzelnen Behandlungsmaßnahmen noch ändern könnten. Diese Erwägungen können allenfalls die Beurteilung der Notwendigkeit der Heilbehandlung beeinflussen, von der Versicherungsschutz dem Grunde nach wesentlich abhängt, und betreffen damit die Begründetheit, nicht aber die Zulässigkeit der Klage. Das Interesse, die Eignung einer rein kieferorthopädischen Korrekturbehandlung schon bei Behandlungsbeginn festgestellt zu bekommen, wird damit nicht in Frage gestellt. Ob sich im Verlauf der Behandlung einzelne Schritte nicht (mehr) als medizinisch notwendig und damit nicht abrechnungsfähig erweisen sollten, ist davon unabhängig und berührt die Zulässigkeit des Feststellungsbegehrens der Klägerin nicht.

 

2.

Die Begründetheit der Feststellungsklage hängt hier entscheidend davon ab, wie das Berufungsgericht im Ansatz ebenfalls noch richtig sieht, ob das therapeutische Konzept im Sinne der Bedingungen als Heilbehandlung medizinisch notwendig ist. Sie lässt sich indes nicht mit seinen Überlegungen zur Nachschüssigkeit des Versicherungsvertrages und gegenwärtigen - also im Vorfeld der Behandlung - unsicheren Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit der Behandlungsmethode oder auch nur einzelner dabei vorgesehener Schritte verneinen.

 

a)

Zutreffend weist die Revisionsbegründung darauf hin, dass diese Betrachtung einerseits Fragen der Zulässigkeit mit denen der Begründetheit vermischt und andererseits die Sachkunde vermissen lässt, die zur Klärung der zwischen den Parteien strittigen Frage erforderlich ist. Ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis, das durch ein Feststellungsbegehren geklärt werden kann, ist - wie vorstehend ausgeführt - gegeben. Die für den Erfolg der Klage maßgebliche Frage nach dem medizinischen Nutzen des Behandlungskonzepts im Sinne der Versicherungsbedingungen bedarf der tatrichterlichen Klärung; ohne Hinzuziehung einer sachverständigen Hilfe wird sie nach derzeitiger Sach- und Rechtslage nicht zu beantworten sein (vgl. BGHZ 133, 208, 215). Entsprechende Beweisanträge liegen vor. Allgemeine Mutmaßungen über ständige Veränderungen organischer Abläufe und medizinischer Erkenntnisse (vgl. OLG Stuttgart aaO) vermögen die erforderliche tatrichterliche Überzeugungsbildung auf einer fundierten Sachgrundlage zur Beurteilung der aufgeworfenen Frage nicht zu ersetzen.

 

b)

Dabei ist zu beachten, dass mit dem Begriff der medizinisch notwendigen Heilbehandlung nach ständiger Rechtsprechung des Senats zur Bestimmung des Versicherungsfalles ein objektiver, vom Vertrag zwischen Arzt und Patient unabhängiger Maßstab eingeführt wird (Urteil vom 21. September 2005 - IV ZR 113/04 - für BGHZ vorgesehen unter II 3 a; BGHZ 154, 154, 166 f.; 133, 208, 212 f.; Senatsurteil vom 14. Dezember 1977 - IV ZR 12/76 - VersR 1978, 271 unter II 1). Insoweit hängt die Beurteilung nicht allein von der Auffassung des Versicherungsnehmers oder des ihn behandelnden Arztes ab (BGHZ 133 aaO m.w.N.), sondern von den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung. Steht danach die Eignung einer Behandlung, eine Krankheit zu heilen oder zu lindern, nach medizinischen Erkenntnissen fest, folgt daraus grundsätzlich auch die Eintrittspflicht des Versicherers (BGHZ 133 aaO). Medizinisch notwendig kann eine Behandlung aber auch dann sein, wenn ihr Erfolg nicht sicher vorhersehbar ist. Es genügt insoweit, wenn die medizinischen Befunde und Erkenntnisse es im Zeitpunkt der Behandlung vertretbar erscheinen lassen, die Behandlung als notwendig anzusehen (Senatsurteil vom 21. September 2005 aaO; BGHZ 154, 154, 166 f.; 133, aaO jeweils m.w.N.). Ob dies der Fall ist bzw. gegenwärtig bereits geklärt werden kann, lässt sich nur anhand der im Einzelfall maßgeblichen objektiven Gesichtspunkte mit Rücksicht auf die Besonderheiten der jeweiligen Erkrankung und der auf sie bezogenen Heilbehandlung bestimmen (vgl. BGHZ 133, 208, 215). Davon hängt die Begründetheit der Klage ab.

 

Die von der Revisionserwiderung gegenüber dem Klageantrag wegen seiner weiten Fassung geäußerten Bedenken machen die Klage nicht unbegründet. Die Klägerin will ersichtlich nur die medizinische Notwendigkeit der im Heil- und Kostenplan vorgeschlagenen Behandlungsmethode und die daran anknüpfende grundsätzliche Leistungsverpflichtung der Beklagten festgestellt wissen; das lässt vertragliche Einwendungen der Beklagten aus anderen Gesichtspunkten unberührt. Der Feststellungsantrag zielt mithin lediglich darauf, dass sich der von der Beklagten zu gewährende Versicherungsschutz auf diese Art der Heilbehandlung erstreckt, nicht aber auf weitere Voraussetzungen, von denen die Erstattungsfähigkeit in Rechnung gestellter Kosten im Einzelnen abhängen kann.


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