Tarifvertragliche Verweisung auf mehrgliedrigen Tarifvertrag

 | Gericht:  Bundesarbeitsgericht (BAG) Erfurt  | Aktenzeichen: 4 AZR 229/07 | Entscheidung:  Urteil
Kategorie Arbeitsrecht

Urteilstext

 

Tenor

1.

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. Januar 2007 - 7 Sa 1766/06 - wird zurückgewiesen.

 

2.

Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten, an den Kläger, der seit dem 1. Dezember 2004 Mitglied der Gewerkschaft ver.di ist, für das Jahr 2004 eine tarifvertragliche Sonderzuwendung zu zahlen.

 

Der Kläger war auf der Grundlage mehrerer befristeter Arbeitsverträge bei der Beklagten als studentische Hilfskraft beschäftigt. In dem ersten Arbeitsvertrag für die Zeit vom 17. Januar 2002 bis zum 16. Januar 2004 wurde die Anwendbarkeit des Tarifvertrages für studentische Hilfskräfte II vom 24. Februar 1986 (TV Stud II) mit allen künftigen Änderungen und Ergänzungen vereinbart. Parteien dieses Tarifvertrages in seiner maßgebenden Fassung sind die Gewerkschaft ver.di und der Verband von Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes in Berlin sowie von Unternehmen, auf deren Leitung das Land Berlin entscheidenden Einfluss hat (VAdöD), dessen Mitglied die Beklagte war.

 

Nach § 11 TV Stud II erhält eine studentische Hilfskraft „eine Zuwendung in sinngemäßer Anwendung des Tarifvertrages über eine Zuwendung für Angestellte vom 12. Oktober 1973“ (im Folgenden ZuwendungsTV). Parteien des ZuwendungsTV sind die Bundesrepublik Deutschland, die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) und die Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und sowie auf Arbeitnehmerseite - ursprünglich - die Gewerkschaften ÖTV und die DAG.

 

Die Höhe der Zuwendung wurde im Jahre 2003 durch den zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der TdL, der VKA und ver.di abgeschlossenen „Tarifvertrag vom 31. Januar 2003 zur Änderung der Zuwendungstarifverträge“ (ÄnderungsTV 2003) mit Wirkung ab 1. Januar 2003 abgesenkt.

 

Der ZuwendungsTV wurde jedenfalls von der TdL zum 30. Juni 2003 gekündigt.

 

In den Verträgen, in denen die Beklagte mit dem Kläger befristete Verlängerungen des Arbeitsverhältnisses als studentische Hilfskraft für die Zeit nach dem 16. Januar 2004 vereinbarte, wurde zwar weiterhin auf den TV Stud II verwiesen. Weiter heißt es in diesem Zusammenhang aber jeweils:

 

„Der gekündigte Tarifvertrag über eine Zuwendung findet keine Anwendung. Eine Zuwendungszahlung erfolgt nicht.“

 

Bereits mit Schreiben vom 10. Januar 2003 hatte die Beklagte gegenüber dem VAdöD ihren Austritt mit sofortiger Wirkung erklärt. Die Parteien haben in den Vorinstanzen darum gestritten, ob dieser Austritt mit sofortiger Wirkung auf der Grundlage der Satzungsbestimmungen des VAdöD und unter Berücksichtigung der sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebenden Gebote vor dem Abschluss des ÄnderungsTV 2003 wirksam geworden ist.

 

Mit Schreiben vom 26. Januar 2005 machte der Kläger die Zahlung einer Zuwendung nach § 11 des TV Stud II für das Jahr 2004 iHv. 360,76 Euro geltend. Die Beklagte zahlte daraufhin an den Kläger auf der Grundlage des zunächst bis zum 16. Januar 2004 befristeten Arbeitsvertrages 1/12 der Zulage (30,06 Euro) aus.

 

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der arbeitsvertragliche Ausschluss des Anspruchs auf eine Sonderzuwendung sei unwirksam. Da die Beklagte nicht wirksam zum 10. Januar 2003 aus dem VAdöD ausgetreten sei, sei sie nach § 3 Abs. 3, § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend an den ÄnderungsTV 2003 gebunden.

 

Der Kläger hat beantragt:

 

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 330,70 Euro brutto nebst Zinsen iHv. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Dezember 2004 zu zahlen.

 

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, der Verbandsaustritt mit sofortiger Wirkung sei zulässig. Aber selbst wenn die entsprechende Satzungsbestimmung vor dem Hintergrund des Art. 9 GG als unwirksam angesehen würde, entfalle nicht die Möglichkeit eines vorzeitigen Austritts. Jedenfalls sei ihr Verbandsaustritt vor der Unterzeichnung der Änderung des ZuwendungsTV wirksam geworden.

 

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf die restliche Zuwendung für 2004 nach dem TV Stud II iVm. mit dem ZuwendungsTV hat.

 

Für die entscheidungserhebliche Vertragszeit nach dem 16. Januar 2004 haben die Verlängerungsverträge, welche die Parteien seit Ende 2003 abgeschlossen haben, jeden Anspruch auf eine Zuwendung nach dem ZuwendungsTV in der Fassung des ÄnderungsTV 2003 ausgeschlossen. Diese Vereinbarungen sind unabhängig davon wirksam, ob die Beklagte wirksam vor dem Abschluss des ÄnderungsTV 2003 aus dem ihre Tarifgebundenheit vermittelnden VAdöD ausgetreten ist. Auch wenn man den dies verneinenden Rechtsstandpunkt des Klägers zu Grunde legt, hatte der Kläger nie einen unmittelbar und zwingenden tarifvertraglichen Anspruch auf eine Sonderzuwendung. Als er zum 1. Dezember 2004 Mitglied der Gewerkschaft ver.di wurde und damit seine Tarifgebundenheit an den TV Stud II iVm. ZuwendungsTV in Betracht kam, befanden sich die einschlägigen tarifvertraglichen Regelungen zur Zuwendung bereits in der Nachwirkung. Selbst wenn man entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine nachwirkende Geltung auch für den Kläger annehmen wollte, war eine solche Nachwirkung für den Kläger auf Grund der abweichenden einzelvertraglichen Abmachungen in den Verlängerungsverträgen ausgeschlossen.

 

I.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung der Zuwendung für die Zeit von Februar bis Dezember 2004 auf Grund arbeitsvertraglicher Bezugnahme. Zwar ist in den Arbeitsverträgen die Anwendbarkeit des TV Stud II vereinbart worden, der in § 11 eine Zuwendung entsprechend dem ZuwendungsTV regelt. Die Anwendung dieses ZuwendungsTV ist aber in der Zusatzvereinbarung vom 17. Dezember 2003 für das über den 16. Januar 2004 hinaus verlängerte Arbeitsverhältnis ausdrücklich ausgeschlossen worden.

 

II.

Dem Kläger steht die Sonderzahlung auch tarifrechtlich nicht zu, obwohl er durch seine Mitgliedschaft bei ver.di ab dem 1. Dezember 2004 tarifgebunden ist.

 

1.

Der ZuwendungsTV gilt unmittelbar für das Arbeitsverhältnis der Parteien schon deshalb nicht, weil studentische Hilfekräfte nicht unter seinen Geltungsbereich fallen. Das ergibt sich aus dem Einleitungssatz des ZuwendungsTV, der hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereichs auf den BAT verweist und damit auf § 3 Buchst. g, wonach auch wissenschaftliche Hilfskräfte, zu denen auch studentische Hilfskräfte gehören (statt aller Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese BAT Stand Juni 2006 § 3 Erl. 8.7) , vom Geltungsbereich des BAT ausgenommen sind.

 

2.

Der ZuwendungsTV gilt auch nicht mittelbar über § 11 TV Stud II, wonach auch studentische Hilfskräfte in entsprechender Anwendung des ZuwendungsTV eine Zuwendung erhalten sollen. Die Verweisung in § 11 TV Stud II bezieht sich auf den von der TdL abgeschlossenen (Teil-)Tarifvertrag des mehrgliedrigen ZuwendungsTV. Dieser Tarifvertrag ist durch die TdL wirksam zum 30. Juni 2003 gekündigt worden. Er befindet sich damit seit dem 1. Juli 2003 im Zustand der Nachwirkung und ist für andere, auch einzelvertragliche Abmachungen offen. Die Auslegung von § 11 TV Stud II ergibt, dass der Geltungszustand des in Bezug genommenen ZuwendungsTV auch für die verweisende Regelung im TV Stud II maßgeblich ist.

 

a)

Die Kündigung des ZuwendungsTV durch die TdL zum 30. Juni 2003 ist wirksam, unabhängig davon, ob auch die anderen auf Arbeitgeberseite beteiligten Verbände den Tarifvertrag gekündigt haben.

 

aa)

Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei einem Tarifvertrag, der auf der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite von mehreren Tarifvertragsparteien abgeschlossen ist (mehrgliedriger Tarifvertrag) durch Auslegung zu ermitteln, ob es sich dabei um mehrere, von einander unabhängige, nur äußerlich in einer Urkunde zusammengefasste Tarifverträge handelt oder um einen einheitlichen, alle Tarifvertragsparteien gemeinsam bindenden Tarifvertrag. Dabei ist in der Regel davon auszugehen, dass es sich um mehrere selbständige Tarifverträge handelt, bei denen jede Tarifvertragspartei die Autonomie über die Vertragsgestaltung, insbesondere das Kündigungsrecht behalten will. Für eine abweichende Auslegung bedarf es einer ausdrücklichen Regelung oder besonderer Anhaltspunkte (Senat 8. November 2006 - 4 AZR 590/05 - AP TVG § 5 Nr. 33 = EzA TVG § 5 Nr. 14) .

 

bb)

Nach diesen Grundsätzen ist vom ZuwendungsTV als eine Zusammenfassung mehrerer selbständiger Tarifverträge auszugehen. Sie eröffnet der TdL das selbständige Kündigungsrecht, das sie mit ihrer Kündigung zum 30. Juni 2003 auch wahrgenommen hat. Der ZuwendungsTV trifft keine Regelung über ein nur gemeinsam auszuübendes Kündigungsrecht. Es gibt auch keine Anhaltspunkte für eine Beschränkung der Tarifvertragsautonomie der auf Arbeitgeberseite beteiligten Tarifvertragsparteien. Dies gilt sowohl für den ursprünglichen ZuwendungsTV, der ohne jede Einschränkung eine Kündigung zum 30. Juni eines jeden Jahres eröffnet, als auch für den ÄnderungsTV 2003, der zu den Kündigungsmöglichkeiten keine Regelung enthält.

 

b)

Durch die danach wirksame Kündigung des von der TdL abgeschlossenen ZuwendungsTV ist auch die auf den ZuwendungsTV verweisende Regelung des TV Stud II in den Geltungszustand der Nachwirkung getreten, ohne dass es einer Kündigung des TV Stud II als Ganzen bedurft hätte. § 11 TV Stud II verweist auf den ZuwendungsTV in der von der TdL abgeschlossenen Fassung und nimmt an deren Schicksal, auch was den Geltungszustand angeht, teil.

 

aa)

In der Verweisung auf den ZuwendungsTV in § 11 TV Stud II wird nicht ausdrücklich bestimmt, welcher der in diesem Tarifwerk zusammengefassten selbständigen Tarifverträge des mehrgliedrigen ZuwendungsTV Anwendung finden soll. Nach den zugrunde liegenden Umständen kann aber nur der von der TdL abgeschlossene ZuwendungsTV gemeint sein:

 

Bei der Beklagten handelt es sich um eine Einrichtung des Landes. Es spricht schon alles dafür, dass für eine solche Einrichtung der Tarifvertrag gelten soll, der von dem für die Länder zuständigen Verband, also der TdL, abgeschlossen worden ist.

 

Das wird entscheidend bestätigt durch den Tarifvertrag zur Übernahme von Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes vom 21. November 1994, der von der VAdöD mit abgeschlossen worden ist, die auch am TV Stud II beteiligt war: § 2 dieses aus Anlass des Ausschlusses des Landes Berlin aus der TdL abgeschlossenen Tarifvertrages bestimmte, dass sämtliche von der TdL und den Gewerkschaften vereinbarten geltenden oder nachwirkenden Tarifverträge in ihrer jeweiligen Fassung Anwendung finden sollen (vergleiche dazu im Einzelnen Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese Teil I § 1 Allgemeiner Geltungsbereich Erl. 2a S. 13 f.) . Auf diesem Hintergrund kann es nicht zweifelhaft sein, dass auch in § 11 TV Stud II auf den von der TdL abgeschlossenen ZuwendungsTV verwiesen wird.

 

bb)

Die durch die Kündigung der TdL herbeigeführte Nachwirkung des ZuwendungsTV erstreckt sich auch auf die Verweisungsregelung in § 11 TV Stud II, so dass die in Bezug genommenen Regelungen des ZuwendungsTV auch im Geltungsbereich des TV Stud II nur noch nachwirken.

 

(1)

Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei einer Verweisung eines Tarifvertrages auf die Tarifnormen eines anderen Tarifvertrages bei Fehlen einer ausdrücklichen Regelung durch Auslegung zu ermitteln, ob die in Bezug genommenen Tarifnormen im Sinne der Gleichstellung in ihrem jeweiligen Geltungszustand Anwendung finden sollen oder ob die zwingende Wirkung der in Bezug genommenen Tarifnormen durch deren Kündigung nicht berührt wird, sondern nur durch die Kündigung des Verweisungstarifvertrages beseitigt werden kann. Wenn mit der Verweisung eine Gleichstellung mit der Entwicklung der in Bezug genommenen Tarifnormen gewollt ist, wie zB bei einem Anerkennungstarifvertrag, spricht das in der Regel dafür, dass auch der Geltungszustand der in Bezug genommenen Tarifnormen auf den Verweisungstarifvertrag durchschlagen soll (BAG 29. August 2007 - 4 AZR 561/06 - Rn. 21 ff., NZA-RR 2008, 249 = ZTR 2008, 309) .

 

(2)

Nach diesen Grundsätzen ergibt die Auslegung des § 11 TV Stud II, dass der von der TdL abgeschlossene Zuwendungstarifvertrag nicht nur in seiner jeweiligen Fassung, sondern auch in seinem jeweiligen Geltungszustand Anwendung finden soll. Nach § 11 TV Stud II sollen auch die studentischen Hilfskräfte die Zuwendung nach dem ZuwendungsTV erhalten, die ihnen an sich nach dem persönlichen Geltungsbereich des ZuwendungsTV nicht zusteht. Es geht den Tarifvertragsparteien des TV Stud II im Ergebnis ersichtlich nur darum, den persönlichen Geltungsbereich des ZuwendungsTV (TdL) auch auf die an sich ausgeschlossenen studentischen Hilfskräfte zu erweitern. Es ist eine Gleichstellung, keine Besserstellung mit den unmittelbar durch diesen Tarifvertrag Begünstigten beabsichtigt. Es bedeutete aber eine Besserstellung der studentischen Hilfskräfte, wenn nach der Kündigung des ZuwendungsTV ihnen die Zuwendung bei beiderseitiger Tarifgebundenheit weiterhin zwingend zustünde, während für die unmittelbar begünstigten Angestellten der ZuwendungsTV nur noch nachwirkt, also durch eine andere Abmachung abgelöst werden kann.

 

3.

Die tarifliche Regelung über die Zuwendung nach § 11 TV Stud II befand sich nach alledem nach der Kündigung des ZuwendungsTV zum 30. Juni 2003 durch die TdL nur noch in dem Geltungszustand der Nachwirkung. Diese nachwirkende Tarifregelung konnte in der Folgezeit, also auch zum Zeitpunkt der von den Parteien für die Zeit nach dem 16. Januar 2004 abgeschlossenen Verlängerungsvereinbarungen, sogar durch beiderseits tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien wirksam abbedungen werden. Die erst in der Nachwirkungsphase am 1. Dezember 2004 begründete Mitgliedschaft des Klägers bei der tarifschließenden Gewerkschaft kann für den Kläger nicht zu einer Besserstellung führen und für ihn einen unmittelbaren und zwingenden, nicht abdingbaren tariflichen Anspruch auf eine Zuwendung begründen.

 

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.


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