Selbständiges Beweisverfahren: Rechtliches Interesse an der Beweissicherung in Arzthaftungssachen

 | Gericht:  Bundesgerichtshof (BGH) Karlsruhe  | Aktenzeichen: VI ZB 51/02 | Entscheidung:  Beschluss
Kategorie Sonstiges

Beschlusstext

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin wird der Beschluß des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 25. Juli 2002 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweiten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

 

Gegenstandswert: 30.000,- Euro

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin verlangt materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen einer Funktionseinschränkung an ihrer rechten Hand nach einer Behandlung durch den Antragsgegner. Sie behauptet, es seien bei einem operativen Eingriff vom Antragsgegner behandlungsfehlerhaft Nerven durchtrennt worden.

 

Der Haftpflichtversicherer des Antragsgegners erklärte sich auf die entsprechende Anfrage der Antragstellerin grundsätzlich mit der Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens einverstanden, erbat aber im selben Schreiben Kopien von ärztlichen Befundberichten der nachbehandelnden Ärzte oder Krankenhäuser und kündigte an, nach Vorliegen sämtlicher Unterlagen unter Auswertung einer Stellungnahme des Versicherungsnehmers umgehend wieder auf die Angelegenheit zurückzukommen.

 

Die Antragstellerin hat am 11. April 2002 beim Landgericht A. die Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Klärung der Frage, ob die Nervenverletzung durch einen Behandlungsfehler des Antragsgegners verursacht worden sei, beantragt. Das Landgericht hat den Antrag abgelehnt, weil eine Zustimmung des Antragsgegners fehle und die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise in Arzthaftungsstreitigkeiten ein selbständiges Beweisverfahren in Frage komme, nicht vorlägen. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluß des Landgerichts hatte keinen Erfolg. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Antragstellerin ihren Antrag auf Anordnung des selbständigen Beweisverfahrens weiter.

 

II.

1.

Das Oberlandesgericht hat übereinstimmend mit dem Landgericht das Vorliegen einer Zustimmung des Antragsgegners zur Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens gem. § 485 Abs. 1 ZPO verneint. Es hat die Anordnung eines Verfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO abgelehnt, weil ein rechtliches Interesse an der beabsichtigten Feststellung nicht hinreichend dargelegt sei. Die vorprozessuale Beweissicherung komme in Arzthaftungssachen unabhängig von der Zustimmung des Antragsgegners nur bei drohendem Beweismittelverlust in Betracht. Im vorliegenden Fall habe aber die Antragstellerin selbst vorgetragen, daß bereits irreparable Dauerschäden eingetreten seien. Im übrigen komme die streitschlichtende Funktion, wie sie dem Gesetzgeber bei der Fassung des § 485 Abs. 2 ZPO vorgeschwebt habe, in Arzthaftungsstreitigkeiten jedenfalls dann nicht zum Tragen, wenn nicht nur ein Behandlungsfehler streitig sei, sondern auch, ob und inwieweit dieser für die eingetretenen Gesundheitsschäden kausal geworden sei. Ein Beweissicherungsverfahren führe, wenn es - wie im vorliegenden Fall - erst mehrere Jahre nach einer als fehlerhaft angesehenen ärztlichen Behandlung und nach weitgehender Manifestation der gesundheitlichen Schäden durchgeführt werde, in der Regel nur zu weiteren Verzögerungen bei der abschließenden Klärung der Haftungsfragen.

 

2.

Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Sie ist im übrigen zulässig (§ 575 Abs. 1, 2 und 3 ZPO) und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

 

a)

Nicht zu beanstanden ist allerdings entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde, daß das Beschwerdegericht in dem Schreiben des Haftpflichtversicherers des Antragsgegners vom 2. Oktober 2001 keine bindende Zustimmung zum konkreten Beweisverfahren gesehen hat. Anders als bei der Auslegung einer privatrechtlichen Willenserklärung ist, worauf die Rechtsbeschwerde zutreffend hinweist, der Senat bei der Überprüfung einer verfahrensrechtlichen Erklärung, um die es sich bei der Zustimmung im Sinne des § 485 Abs. 1 ZPO handelt, zwar nicht eingeschränkt (vgl. Senatsurteile vom 18. Juni 1996 - VI ZR 325/95 - NJW-RR 1996, 1210 f. und vom 30. Januar 1979 - VI ZR 45/78 - VersR 1979, 373 f.; BGH, Urteil vom 27. März 1996 - XII ZR 83/95 - NJW-RR 1996, 833 ff.; Zöller/Gummer ZPO, 23. Aufl., § 546 Rdn. 11). Das Beschwerdegericht hat aber im vorliegenden Fall aus dem Inhalt des Schreibens des Haftpflichtversicherers des Antragsgegners vom 2. Oktober 2001 den naheliegenden Schluß gezogen, daß die Zustimmung zu einer Beweissicherung nicht von vornherein versagt werden sollte, aber auch noch nicht bindend erteilt worden ist. Der Haftpflichtversicherer wollte zunächst in die eigene Sachprüfung eintreten. Das Beschwerdegericht mußte deshalb dem Antrag nicht schon nach § 485 Abs. 1 ZPO stattgeben.

 

b)

Die Rechtsbeschwerde beanstandet jedoch mit Erfolg, daß das Beschwerdegericht den Antrag zurückgewiesen hat, weil nach seiner Auffassung in Arzthaftungssachen grundsätzlich ein rechtliches Interesse im Sinne des § 485 Abs. 2 ZPO an einer vorprozessualen Beweissicherung nicht bestehe. Die Frage ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten.

 

aa)

Die ablehnende Meinung, die auch vom Beschwerdegericht vertreten wird, hält das selbständige Beweisverfahren in Arzthaftungssachen für nicht geeignet, einen Rechtsstreit zu vermeiden, wenn nicht nur das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, sondern auch die Kausalität der fehlerhaften Behandlung für die eingetretenen Gesundheitsschäden und das Ausmaß der Schäden streitig seien. Es fehle dem Gericht die Möglichkeit, den Sachverhalt den besonderen Erfordernissen des Arzthaftungsprozesses entsprechend unter weitgehender Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes aufzuklären. Einer sachgerechten Beweiserhebung müsse eine Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung durch das Gericht vorhergehen. Da der Antragsteller im selbständigen Beweisverfahren die Beweisfragen vorgebe und der Gegner nur das Recht zur Stellung des Gegenantrages habe (vgl. BGH, Beschluß vom 4. November 1999 - VII ZB 19/99 - NJW 2000, 960, 961), könne von Seiten des Gerichts nicht auf eine Präzisierung der Beweisfragen hingewirkt werden (vgl. OLG Köln, VersR 1998, 1420 f. = MDR 1998, 224 f.; OLG Nürnberg, MDR 1997, 501; Rehborn, MDR 1998, 16 ff.; Schinnenburg in MedR 2000, 185, 187 f. für die zahnärztliche Haftung).

 

bb)

Dagegen führen die Befürworter eines selbständigen Beweisverfahrens auch bei Arzthaftungsansprüchen an, daß der Wortlaut des § 485 Abs. 2 ZPO eine grundsätzliche Ausklammerung der Arzthaftungssachen aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift nicht zulasse. Das rechtliche Interesse als Zulässigkeitsvoraussetzung nach § 485 Abs. 2 ZPO sei generell weit auszulegen (so MünchKomm/Schreiber, ZPO, 2. Aufl., § 485 Rdn. 13; Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 24. Aufl., § 485 Rdn. 7; Musielak/Huber, ZPO, 3. Aufl., § 485 Rdn. 13; Zöller/Herget, aaO, § 485 Rdn. 7a m.w.N.). Auch wenn sich das Ergebnis eines selbständigen Beweisverfahrens in Arzthaftungssachen häufig als unzureichend oder gar unerheblich erweise, sei das Risiko, daß das Gutachten auf einer ungesicherten tatsächlichen Grundlage erstattet werde, vom Antragsteller zu tragen und über die Kostenfolge des § 96 ZPO zu regeln. Dem Patienten stehe zwar auch das außergerichtliche Schlichtungsverfahren vor den Gutachter- und Schlichtungsstellen der Ärztekammern zur Verfügung. Daraus dürfe aber nicht gefolgert werden, daß dieses den Vorrang habe und das selbständige Beweisverfahren verdränge (vgl. OLG Koblenz, MDR 2002, 352 f.; OLG Saarbrücken, VersR 2000, 891 f.; OLG Düsseldorf, NJW 2000, 3438 f.; OLG Karlsruhe, VersR 1999, 887 f.; OLG Düsseldorf, MDR 1998, 1241 f.; OLG Stuttgart, NJW 1999, 874 f.; OLG Schleswig, OLGR 2001, 279 f; Mohr in MedR 1996, 454 f.; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Rdn. 232; Stegers, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im DAV, Bd. 3, 2001, 11 ff.; befürwortend für Indikationsbewertungen bei zahnprothetischen Leistungen Rinke/Balser in MedR 1999, 398 ff.).

 

cc)

Dieser Auffassung schließt sich der Senat an. Der Wortlaut des § 485 Abs. 2 ZPO läßt eine Ausnahme für Ansprüche aus dem Arzthaftungsrecht nicht zu. Die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlauts sind nicht gegeben. Weder die Entstehungsgeschichte des § 485 Abs. 2 ZPO noch sein Sinn und Zweck oder der Gesamtzusammenhang mit der Regelung in § 485 Abs. 1 ZPO sprechen gegen eine generelle Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahrens bei Arzthaftungsansprüchen.

 

In der Begründung des Entwurfs für das Rechtspflegevereinfachungsgesetz (BT-Drucks. 11/3621 vom 1. Dezember 1988, S. 23) heißt es:

 

"Insbesondere, wenn der Streit der Parteien nur von der Entscheidung tatsächlicher Fragen abhängt, wird die vor- oder außergerichtliche Beweisaufnahme als zweckmäßig angesehen. U.a. für Bauprozesse (Punktesachen), Kraftfahrzeug- und Arzthaftungsprozesse wird angenommen, daß die gesonderte Begutachtung durch einen Sachverständigen häufig zu einer die Parteien zufriedenstellenden Klärung und damit eher zum Vergleich als in einen Prozeß führen würde.

 

(...). Der Entwurf (...) schlägt vor, das bisherige Beweissicherungsverfahren zu erweitern und auf den Sicherungszweck für das schriftliche Sachverständigengutachten ganz, im Übrigen bei Zustimmung des Gegners zu verzichten. Das Verfahren der §§ 485 ff. ZPO wird als selbständiges Beweisverfahren bezeichnet."

 

Schon diese Erwägung des Gesetzgebers legt eine Zulässigkeit des Verfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO nahe. Im übrigen sind dessen Ziele bei Ausschöpfung der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten zur Sachaufklärung und zur vorprozessualen Einigung zwischen den Parteien grundsätzlich auch in Arzthaftungssachen zu erreichen. Sinn und Zweck der vorprozessualen Beweissicherung nach § 485 Abs. 2 ZPO ist es nämlich, die Gerichte von Prozessen zu entlasten und die Parteien unter Vermeidung eines Rechtsstreits zu einer raschen und kostensparenden Einigung zu bringen (vgl. Zöller/Herget, aaO, vor § 485 Rdnr. 2; Reichold in Thomas/Putzo, aaO, Vorbem. vor § 485 Rdnr. 2; Musielak/Huber, aaO, § 485 Rdnr. 2). Der Senat verkennt nicht, daß sich das selbständige Beweisverfahren bei der Verletzung einer Person, um die es regelmäßig in Arzthaftungsverfahren geht, darauf beschränkt, den Zustand dieser Person, die hierfür maßgeblichen Gründe und die Wege zur Beseitigung des Schadens festzustellen (§ 485 Abs. 2 ZPO). Deshalb ist es zwar richtig, daß sich mit den möglichen tatsächlichen Feststellungen ein Arzthaftpflichtprozeß häufig nicht entscheiden lassen wird, weil damit noch nicht die rechtlichen Fragen des Verschuldens des Arztes und der Kausalität der Verletzung für den geltend gemachten Schaden geklärt sind. In der Rechtspraxis wird sich jedoch bei Feststellung des Gesundheitsschadens und der hierfür maßgeblichen Gründe nicht selten erkennen lassen, ob und in welcher Schwere ein Behandlungsfehler gegeben ist. Deshalb kann die vorprozessuale Klärung eines Gesundheitsschadens und seiner Gründe durchaus prozeßökonomisch sein.

 

Hiergegen spricht auch nicht zwingend, daß dem Gutachten unter Umständen ein geringer Beweiswert zukommen kann, weil der Antragsteller ohne Hilfe durch das Gericht die Beweisfragen vorgibt oder wesentliche Unterlagen fehlen, zumal der Antragsteller in der Regel anwaltlich vertreten sein wird. Im übrigen hat das Gericht auch in einem solchen Verfahren eigene Möglichkeiten den Sachverhalt weiter aufzuklären und zu versuchen, die Parteien zu einer vergleichsweisen Einigung zu führen oder den Patienten zu veranlassen, von der Weiterverfolgung der Ansprüche abzusehen. Es kann hierzu den Sachverständigen zur Anhörung laden, zur Ergänzung des Gutachtens auffordern, ein weiteres Gutachten einholen oder die Parteien zur Erörterung laden (§§ 492 Abs. 1, 411 Abs. 3, § 412 Abs. 1 ZPO; § 492 Abs. 3 ZPO). Insofern stellt sich die Rechtslage nicht anders dar als beim Verfahren nach § 485 Abs. 1 ZPO. Auch dort ist das Gericht an die Formulierung der Beweisfragen durch den Antragsteller gebunden (vgl. Musielak/Huber, aaO, Rdn. 7; Zöller/Herget, aaO, § 485 Rdn. 4).

 

3.

Kann hiernach ein rechtliches Interesse an der Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO auch bei Arzthaftungsansprüchen nicht aus grundsätzlichen Erwägungen ohne Prüfung der Umstände des Einzelfalles verneint werden, wird das Beschwerdegericht zu prüfen haben, ob im vorliegenden Fall die übrigen Voraussetzungen für die Anordnung der Begutachtung nach § 485 Abs. 2 ZPO gegeben sind.


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