Selbständiges Beweisverfahren im Arzthaftungsrecht

 | Gericht:  Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf  | Aktenzeichen: I-1 W 71/09 | Entscheidung:  Beschluss
Kategorie Sonstiges

Beschlusstext

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Krefeld vom 18. November 2009 aufgehoben.

 

Das Landgericht wird angewiesen, von seinen Bedenken gegen die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Antrag der Antragstellerin vom 8. September 2009 auf Erlass einer Beweisanordnung gemäß § 485 ZPO Abstand zu nehmen.

 

Gründe

I.

Die gemäß § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin hat in der Sache Erfolg. Das Landgericht hat zu Unrecht von dem Erlass der beantragten Beweisanordnung im selbständigen Beweisverfahren über die Themen, die Gegenstand des Antrages der Beschwerdeführerin vom 8. September 2009 sind, abgesehen. Entgegen der Begründung der angefochtenen Entscheidung ist der auf Einholung eines fachmedizinischen Sachverständigengutachtens gerichtete Antrag in zulässiger Weise gestellt, weil die Voraussetzungen des § 485 Abs. 2 Ziffer 1, 2 und 3 ZPO gegeben sind. Die Antragstellerin hat auch ein rechtliches Interesse an der Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens gemäß § 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO.

 

II.

1)

Der Statthaftigkeit des nach § 485 ZPO gestellten Antrages steht nicht entgegen, dass die durch die Antragstellerin formulierte Beweisthematik im Ergebnis darauf hinausläuft festzustellen, ob Behandlungsfehler der Antragsgegnerinnen gegeben sind und welche Maßnahmen ggfs. im Falle von Behandlungsfehlern zur Beseitigung der Folgen der kieferorthopädischen Behandlungen durchzuführen sind sowie welcher Aufwand damit verbunden ist.

 

1)

Unzutreffend ist die Begründung der angefochtenen Entscheidung, es sei weder dargetan noch glaubhaft gemacht, dass die Besorgnis bestehe, es könnten die notwendigen Feststellungen zur Frage der Ordnungsgemäßheit der kieferorthopädischen Behandlungen der Antragsgegnerinnen im Hauptsacheverfahren nicht mehr getroffen werden. Mangels einer Zustimmung der Gegnerinnen gemäß § 485 Abs. 1 ZPO beurteilt sich die Zulässigkeit des Antrages auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens nicht nach dieser Vorschrift, sondern nach Maßgabe des Absatzes 2 dieser Bestimmung. Danach kommt es für die Feststellung des Zustandes einer Person, der Ursache eines Personenschadens und des Aufwandes für die Beseitigung des Personenschadens nicht auf das in § 485 Abs. 1 angesprochene Beweissicherungsbedürfnis an, weil ein Rechtsstreit noch nicht anhängig ist.

 

2)

Die Antragstellerin begehrt insoweit eine Feststellung über den Zustand ihrer Person, als sie eine gutachterliche Aufklärung über die als fehlerhaft durchgeführt behauptete kieferorthopädischen Behandlungen der Antragsgegnerin einschließlich einer Parodontoseerkrankung erstrebt. Dabei bringt sie den Gebisszustand mit Behandlungsfehlern der Antragsgegnerinnen in Verbindung und möchte einen möglichen Kausalzusammenhang im Vorfeld eines Streitverfahrens gutachterlich geklärt wissen. Gleiches gilt hinsichtlich der Beweisthematik, welche die Kosten der Mangelbeseitigung betreffen soll. Da die beiden Antragsgegnerinnen unabhängig voneinander und zeitlich versetzt mit der kieferorthopädischen Behandlung der Antragstellerin befasst waren, möchte sie auch den jeweils auf die Antragsgegnerin zu 1) bzw. auf die Antragsgegnerin zu 2) gegebenenfalls entfallenden Verursachungsbeitrag gesondert festgestellt wissen, um die Ursache des Personenschadens im Sinne des § 485 Abs. 2 Ziffer 2 ZPO abschließend gutachterlich aufklären zu lassen.

 

3)

Im selbständigen Beweisverfahren auf Begutachtung durch einen Sachverständigen (§ 485 Abs. 2 ZPO) ist der Sachvortrag des Antragstellers hinsichtlich des Hauptanspruchs, zu dessen Geltendmachung die Begutachtung dienen soll, grundsätzlich nicht auf seine Schlüssigkeit oder Erheblichkeit zu prüfen (BGH NJW 2004, 2488 = MDR 2005, 162). Die Zulässigkeit des in Rede stehenden Antrages scheitert somit nicht daran, dass die Antragstellerin aller Wahrscheinlichkeit nach ein erhebliches Mitverschulden an der Entstehung der Gingivitis und damit letztlich an der Ursache der Parodontoseerkrankung aufgrund des Umstandes trifft, dass sie übliche mundhygienische Maßnahmen nicht durchgeführt und wiederholt ärztliche Behandlungs- und Nachuntersuchungstermine - auch bei dem Parodontologen Dr. L. - nicht wahrgenommen hat. Die Frage allerdings, ob wegen der offenkundigen Nachlässigkeiten der Antragstellerin oder wegen der Versäumnisse ihrer anfänglich mit der Personensorge befasst gewesenen Erziehungsberechtigten gegebenenfalls ein Antrag auf Prozesskostenhilfe zur Ermöglichung einer Schadensersatzklage gegen die Antragsgegnerin zu 1) und/oder gegen die Antragsgegnerin zu 2) positiv zu bescheiden sein wird, wird eine kritische Prüfung der Sach- und Rechtslage unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens (§ 254 Abs. 1 BGB) erforderlich machen. Für das selbständige Beweisverfahren kommt es auch nicht darauf an, dass die Antragsgegnerin zu 1) vorsorglich die Verjährungseinrede erhebt.

 

III.

1)

Die Zulässigkeit eines selbständigen Beweisverfahrens in Arzthaftungssachen nach Maßgabe des § 485 Abs. 2 ZPO wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung teilweise verneint. Zur Begründung wird ausgeführt, die Komplexität der Materie stehe einer Sachaufklärung im selbständigen Beweisverfahren im Allgemeinen entgegen. In einem Arzthaftungsprozess sei es erforderlich, den einer Begutachtung zugrundezulegenden Sachverhalt zuvor festzustellen, ohne eine solche Aufklärung könne ein Gutachter keine zuverlässige Auskunft über die Ursache eines Personenschadens geben. Eine einseitige Fragestellung durch eine Partei ohne Schlüssigkeitsprüfung sowie die einseitige Auswahl eines Sachverständigen könne die Sachaufklärung erschweren. Konkret soll ein Antrag im selbständigen Beweisverfahren dann unzulässig sein, wenn dieser ausschließlich auf die Feststellung eines Behandlungsfehlers gerichtet ist, die der Sachverständige nicht allein, sondern nur das Gericht mit dessen Hilfe treffen kann (vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Stichwort "Beweisverfahren, selbständiges", I 2, Seite 395). Dieser Argumentation ist das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung gefolgt.

 

2)

Sie entspricht jedoch weder der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Ansicht in der Judikatur, noch der auch durch den erkennenden Senat getragenen Rechtsprechung des bisher für Zahnarzthaftungssachen zuständig gewesenen 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf.

 

a)

Dieser hat bereits im Jahre 1998 entschieden, ein selbständiges Beweisverfahren könne auch zur Vorbereitung eines Arzthaftungsprozesses durchgeführt werden (MDR 1998, 1241). Zwei Jahre später hat das Oberlandesgericht Düsseldorf (8. Zivilsenat) entschieden, ein selbständiges Beweisverfahren sei grundsätzlich auch bei der beabsichtigten Inanspruchnahme eines Arztes wegen eines angeblichen Behandlungsfehlers zulässig; der Patient als Antragsteller könne selbst entscheiden, ob er das Risiko, das das einzuholende Gutachten auf einer ungesicherten tatsächlichen Grundlage erstattet werde, eingehen wolle. Zweckmäßig sei es, der Antragschrift die den umstrittenen Vorfall betreffende medizinische Dokumentation beizufügen (NJW 2000, 3438).

 

b)

Diese Rechtsprechung entspricht der herrschenden Meinung, wonach das selbständige Beweisverfahren, insbesondere die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens auf Antrag eines Patienten, zur Feststellung eines von diesem behaupteten Behandlungsfehlers zulässig ist. Dies gilt konkret auch für Zahnarzthaftungssachen (vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Martis/Winkhart a.a.O., Seite 396).

 

c)

Der Bundesgerichtshof hat sich zwischenzeitlich der herrschenden Meinung angeschlossen. Zur Begründung ist ausgeführt, der Wortlaut des § 485 Abs. 2 ZPO lasse eine Ausnahme für Ansprüche aus dem Arzthaftungsrecht nicht zu. Die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlauts seien nicht gegeben. Weder die Entstehungsgeschichte des § 485 Abs. 2 ZPO noch sein Sinn und Zweck oder Gesamtzusammenhang mit der Regelung des § 485 Abs. 1 ZPO sprächen gegen eine generelle Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahrens bei Arzthaftungsansprüchen. In diesem Zusammenhang stellt der Bundesgerichtshof auf die Zielsetzung des Rechtspflegevereinfachungsgesetzes vom 1. Dezember 1988 (BT-Drucksache 11/3621, Seite 23) ab. Danach war intendiert, durch die vorprozessuale Beweissicherung die Gerichte gerade in den Fällen, in welchen der Streit der Parteien nur von der Entscheidung tatsächlicher Fragen abhängt (wie etwa in Bau- oder Arzthaftungssachen) von Prozessen zu entlasten und die Parteien unter Vermeidung eines Rechtsstreits zu einer raschen und kostensparenden Einigung zu bringen. Dagegen spreche auch nicht zwingend, dass dem Gutachten unter Umständen ein geringerer Beweiswert zukommen könne, weil der Antragsteller ohne Hilfe durch das Gericht die Beweisfrage vorgebe oder wesentliche Unterlagen fehlten (BGH NJW 2003, 1741, 1742).

 

d)

Die Gefahr, dass ein Sachverständiger im selbständigen Beweisverfahren sein Gutachten auf ungesicherter tatsächlicher Grundlage erstellt, sowie der Umstand, dass die Fragen einseitig vom Antragsteller formuliert sind, sind keine Besonderheiten des Arzthaftpflichtprozesses, die es rechtfertigen würden, gerade in Arzthaftpflichtfällen das rechtliche Interesse regelmäßig zu verneinen (OLG Düsseldorf - 8. Zivilsenat - MDR 1996, 132 sowie OLG Stuttgart NJW 1999, 874).

 

3a)

Die durch die Antragstellerin formulierten Beweisthemen hinsichtlich einer Parodontoseerkrankung und ihrer Ursachen lassen sich faktisch nicht von der Frage trennen, ob die kieferorthopädischen Behandlungen der Antragsgegnerinnen ordnungsgemäß und fachgerecht waren und ob diese gegebenenfalls schon frühzeitig auf die ersten Anzeichen einer Gingivitis bzw. spätestens auf solche einer Parodontitis hätten initiativ werden müssen.

 

b)

In der Rechtspraxis lässt sich bei Feststellung eines Gesundheitsschadens und der hierfür maßgeblichen Gründe nicht selten erkennen, ob und in welcher Schwere ein Behandlungsfehler gegeben ist. Deshalb kann die vorprozessuale Klärung eines Gesundheitsschadens und seiner Gründe durchaus prozessökonomisch sein (BGH NJW 2003, 1741, 1742 rechte Spalte). Entgegen der Begründung der angefochtenen Entscheidung ist auch ein rechtliches Interesse im Sinne des § 485 Abs. 2 S. 2 ZPO für die Klärung der in Rede stehenden Beweisthematik im selbständigen Beweisverfahren gegeben. Ein solches Interesse kann bei Arzthaftungsansprüchen nicht aus grundsätzlichen Erwägungen ohne Prüfung der Umstände des Einzelfalls verneint werden (BGH NJW 2003, 1741). Das rechtliche Interesse im Sinne dieser Vorschrift ist generell weit auszulegen (BGH a.a.O., Seite 1742, linke Spalte). Im vorliegenden Fall soll die Klärung der streitigen Tatsachenfragen erkennbar der Prüfung der Erfolgsaussichten einer Schadensersatzklage der Antragstellerin gegen die Antragsgegnerinnen dienen. Ein rechtliches Interesse im Sinne des § 485 Abs. 2 S. 2 ZPO ist im Allgemeinen zu bejahen, wenn die Feststellung Grundlage für Ansprüche des Antragstellers oder für deren Verneinung sein kann (OLG Karlsruhe MDR 1999, 496). Sollte der Sachverständige überzeugende Feststellungen treffen, die für die Antragstellerin ungünstig sind, wird sie vernünftigerweise von der weiteren Inanspruchnahme der Antragsgegnerinnen absehen. Sollte sich demgegenüber, insbesondere auch nach Verwertung der Dokumentation der Antragsgegnerinnen, eine Fehlerhaftigkeit der Behandlungen herausstellen, besteht die nicht von vornherein auszuschließende Möglichkeit einer außergerichtlichen Klaglosstellung der Antragstellerin (vgl. OLG Düsseldorf - 8. Zivilsenat - NJW 2000, 3438, 3439).

 

IV.

Der Gegner des selbständigen Beweissicherungsverfahrens darf einen eigenen Gegenantrag zu der Beweisthematik stellen (Zöller/Herget, Kommentar zur ZPO, 28. Aufl., § 485, Rdnr. 3 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen). In diesem Zusammenhang wird das Landgericht zu beachten haben, dass die Antragsgegnerin zu 2) in ihrem Schriftsatz vom 21. Oktober 2009 hilfsweise zu der in Rede stehenden Beweisthematik Gegenanträge gestellt hat (Bl. 38, 39 d.A.). Die Antragstellerin hat in ihrem Schriftsatz vom 11. November 2009 ergänzende Frage zu der in Rede stehenden Beweisthematik formuliert (Bl. 70 d.A.).

 

Es besteht kein Anlass, die Rechtsbeschwerde zu zulassen, da die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.


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