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Medizinische Notwendigkeit von KFO-Behandlungsmethoden (Miniplastschienen)

 | Gericht:  Amtsgericht (AG) Hamburg-Barmbek  | Aktenzeichen: 816 C 6/15 | Entscheidung:  Urteil
Kategorie Gebühren

Urteilstext


Tenor

Das Amtsgericht Hamburg-Barmbek - Abteilung 816 - durch die Richterin am Amtsgericht ... am 20.10.2015 auf Grund des Sachstands vom 22.09.2015 ohne weitere mündliche Verhandlung mit Zustimmung der Parteien gemäß § 128 Abs. 2 ZPO erkennt für Recht:

1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 1.408,86 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz pro Jahr hierauf seit dem 18.06.2015 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 492,54 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz pro Jahr hierauf seit dem 05.02.2014 zu zahlen.

2.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 57 % und die Beklagte 43 %.

3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für die Klägerin nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Beschluss
Der Streitwert wird auf EUR 3.266,95 festgesetzt (75 % der im kieferorthopädischen Behandlungsplan genannten Summe von EUR 5.444,92 - wegen der tariflichen Begrenzung der Erstattungsfähigkeit auf 75 % - also EUR 4.083,69, abzüglich 20 % wegen des Feststellungsantrags). Für den Zeitraum ab Umstellung der Klage in eine Zahlungsklage mit Schriftsatz vom 10.06.2015 wird der Streitwert auf EUR 1.408,86 festgesetzt.


Tatbestand

Die Klägerin hat ursprünglich die Feststellung begehrt, dass die Beklagte zur Erstat-tung der Kosten für bestimmte kieferorthopädische Heilbehandlungen verpflichtet ist. Zuletzt begehrt sie Zahlung der Kosten für so genannte Invisalign-Schienen.

Die Klägerin ist bei der Beklagten privat krankenversichert, und zwar nach dem Tarif PRIMO. Dieser sieht vor, dass erstattungsfähige Aufwendungen für kieferorthopädische Maßnahmen zu 75 % erstattet werden. Außerdem heißt es in den Versicherungsbedingungen unter II 2.:

„Zahntechnische Leistungen gemäß Anhang 5 (Preis- und Leistungsverzeichnis für zahntechnische Leistungen) sind bis zu den dort genannten Preisen erstattungsfähig

Im Anhang 5 - Preis- und Leistungsverzeichnis für zahntechnische Leistungen sind unter der Zwischenüberschrift „Auf- und Fertigstellung/gebogene Klammern/Schienen" unter anderem genannt

„930 Aufbissschiene
931 Knirscherschiene
932 Bissführungsplatte/komplett
933 Miniplastschiene
934 Retentionsschiene"

In der rechten Spalte sind jeweils Beträge genannt, wobei über der Tabelle steht „erstattungsfähig bis zu ". Hinter der Nr. 933 Miniplastschiene findet sich der Betrag von EUR 61,89. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Versicherungsbedingungen einschließlich des Anhangs 5, Anlage B 2, verwiesen.

Die Klägerin begab sich in die kieferorthopädische Behandlung von Dr. ... in ... . Dieser erstellte einen kieferorthopädischen Behandlungsplan, der einen voraussichtlichen Endbetrag von EUR 5.444,92 einschließlich der zu erwartenden Laborkosten auswies. Der Plan wies als Befunde insbesondere frontale Engstände mit Platzmangel im Ober- und Unterkiefer und diverse Dreh- und Kippstände aus. Als Therapiemaßnahme sah der Plan unter anderem transparente Invisalign-Schienen im Ober- und Unterkieferbereich vor. Ausweislich des Behandlungsplanes entfielen ca. EUR 2.500,00 auf geschätzte Material- und Laborkosten, davon ca. EUR 1.950,00 auf die Invisalign-Schienen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den kieferorthopädischen Behandlungsplan vom 27.02.2013 verwiesen, Anlage K 1. Bei den Invisalign-Schienen handelt es sich um eine Serie von transparenten Kunststoffschienen, die jeweils ca. 14 Tage lang getragen werden und mit denen die Zahnstellung in kleinen Schritten korrigiert werden kann.

Die Klägerin forderte die Beklagte mit Rechtsanwaltsschreiben vom 06.11.2013 zur tariflichen Leistungszusage auf, Anlage K 2. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 07.11.2013, Anlage K 3, ab, und zwar mit der Begründung, dass die Maßnahmen nicht medizinisch notwendig seien und außerdem nach dem Tarif PRIMO die Invisalign-Schienen nicht erstattungsfähig seien, weil sie nicht Inhalt des Preis- und Leistungsverzeichnisses für zahntechnische Leistungen seien.

Die Klägerin begann mit der ärztlichen Behandlung, welche über einen längeren Zeitraum anvisiert war Sie reichte in der Folgezeit mehrere Rechnungen bei der Beklagten ein, über die die Beklagte mit Schreiben vom 26.05.2015, Anlage B 9, auf das verwiesen wird, abrechnete. Streitgegenständlich ist insoweit die Rechnung der Firma ... vom 14.10.2013 über insgesamt EUR 1.878,49 für 54 Invisalign-Schienen, Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 10.06.2015. Auf diese Rechnung erstattete die Beklagte nichts mit der Begründung, dass die Materialkosten für die Invisalign-Schienen nicht im Preis- und Leistungsverzeichnis enthalten seien. Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage nunmehr 75 % dieser Kosten.

Die Klägerin behauptet, für ihre ursprünglich erhobene Feststellungsklage habe ein Feststellungsinteresse bestanden. Gebührenrechtliche Einwendungen seien im Rahmen der Feststellungsklage nicht zu bescheiden. Das Feststellungsinteresse sei nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Behandlung bereits begonnen hat und ein-zelne Rechnungen vorliegen. Die kieferorthopädische Behandlung sei medizinisch notwendig. Die Invisalign-Schienen seien Miniplastschienen im Sinne von Ziffer 933 des Preis- und Leistungsverzeichnisses, die mit einem Betrag bis EUR 61,89 pro Stück erstattungsfähig seien. Aus der Wissenschaftlichen Stellungnahme der DGKFO zur Behandlung mit Alignern, Anlage B 14, ergebe sich, dass Invisalign-Schienen Miniplastschienen seien. Allein die Tatsache, dass die markenrechtliche Bezeichnung der Invisalign-Schienen nicht im Preis- und Leistungsverzeichnis vorhanden ist, spreche nicht gegen eine Erstattung, da es viele Herstellerfirmen gäbe, die derartige Schienen produzieren. Alle fielen unter den Oberbegriff Miniplastschienen. Für den durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmer sei anhand des Preis- und Leistungsverzeichnisses nicht erkennbar, dass eine Erstattung ausgeschlossen sein soll. Die Leistungsabrechnung halte sich im tariflich vorgesehenen Erstattungsrahmen von EUR 61,89 pro Stück, denn 54 Schienen zu einem Gesamtpreis von EUR 1.878,49 kosteten nur EUR 34,78 pro Stück.

Mit der am 04.02.2014 zugestellten Klage hat die Klägerin ursprünglich beantragt, festzustellen, dass die Beklagte zur Erstattung der in dem kieferorthopädischen Behandlungsplan des Dr. ... vom 27.02.2013 ausgewiesenen Heilbehandlungen über EUR 5.444,92 in tariflicher Höhe verpflichtet ist, sofern im maßgeblichen Zeitpunkt sämtliche übrigen Voraussetzungen dieser Erstattungspflicht bestehen, sowie die Beklagte zur Zahlung von EUR 571,44 vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu verurteilen.

Mit Schriftsatz vom 10.06.2015, zugestellt am 17.06.2015, hat die Klägerin ihren Feststellungsantrag in einen Leistungsantrag umgestellt.

Die Klägerin beantragt zuletzt,

1.
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin EUR 1.408,86 nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2.
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin EUR 571,44 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte meint, der ursprünglichen Feststellungsklage habe das Feststellungsinteresse gefehlt. Denn eine sachgemäße und erschöpfende Lösung des Streits über die Erstattungspflicht sei nicht zu erwarten gewesen, weil neben der Frage der medizinischen Notwendigkeit auch die Abrechenbarkeit einzelner Gebühren, die Höhe einzelner Steigerungssätze sowie die tariflichen Begrenzungen des PRIMO-Tarifs streitig waren, nämlich insbesondere die Frage ob die Invisalign-Schienen vom Tarif umfasst sind. Die Beklagte hat ursprünglich die medizinische Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung verneint und behauptet, es sei lediglich eine ästhetische, kosmetische Maßnahme. Zuletzt hat die Beklagte in ihren Abrechnungsschreiben aber die Behandlung im Grundsatz als medizinisch indiziert angesehen. Die Beklagte trägt vor, Invisalign-Schienen seien keine Miniplastschienen. Letztere würden beim Knirschen und Pressen mit den Zähnen verwendet, wie sich aus der Erläuterung der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Berlin, Anlage B 11, ergäbe (Beweis: Sachverständigengutachten). Miniplastschienen und Invisalign-Schienen würden sich in mehreren Punkten unterscheiden. Miniplastschienen seien einfache Schienen, die seit Jahren bekannt seien, im zahntechnischen Labor mittels Tiefiziehverfahren hergestellt würden, und mehrere Funktionen haben könnten Invisalign-Schienen seien in Serien angefertigte Schienen ausschließlich zur kieferorthopädischen Korrektur von Zahnfehlstellungen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 17.09.2015 verwiesen. Jedenfalls ergäbe sich aus dem Preis- und Leistungsverzeichnis, dass nur eine einzige Schiene ersatzfähig sein kann, nicht aber in Serien erstellte Schienen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens aufgrund des Beweisbeschlusses vom 22.07.2014 zur medizinischen Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. S vom 31.10.2014 verwiesen. Die Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst zahlreicher Anlagen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

I.
Mit Zustimmung der Parteien konnte das Gericht gemäß § 128 Abs. 2 ZPO im schriftlichen Verfahren entscheiden, ohne dass eine weitere mündliche Verhandlung erforderlich war.

II.
Die zuletzt erhobene Leistungsklage ist zulässig und überwiegend begründet.

1.
Die Umstellung der Klage von einer Feststellungs- in eine Leistungsklage ist gemäß § 264 Nr. 2 ZPO zulässig. Es liegt einerseits eine Erweiterung des Klageantrags vor, weil die Klägerin nicht mehr nur auf Feststellung der Erstattungspflicht der im kieferorthopädischen Behandlungsplan vom 27.02.2013 genannten Heilbehandlungen klagt, sondern auf Zahlung konkreter Kostenpositionen, die der Klägerin von ihrem behandelnden Zahnarzt in Rechnung gestellt wurden. Andererseits hat die Klägerin ihre Klage aber auch beschränkt auf die Kosten für die Invisalign-Schienen. Die weiteren Positionen, die noch im kieferorthopädischen Behandlungsplan vom 27.02.2013 genannt waren, sind nicht streitgegenständlich. Dass das Gericht die ursprüngliche Feststellungsklage für unzulässig hält, wirkt sich lediglich auf die Kostenregelung aus (dazu unten siehe III.).

Denn maßgeblich für die Frage der Zulässigkeit ist der zuletzt gestellte Klageantrag. Dieser ist auf Leistung gerichtet und ohne Weiteres zulässig.

2.
Die Klage ist überwiegend - bis auf einen Teil der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen - begründet.

Die Klägerin verlangt zu Recht von der Beklagten die Zahlung von EUR 1.408,86 nebst Zinsen in tenorierter Höhe sowie die Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 492,54 nebst Zinsen in tenorierter Höhe.

a)
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von EUR 1.408,86 für die Invisalign-Schienen aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Versicherungsvertrag.

aa)
Die kieferorthopädische Behandlung der Klägerin mit Invisalign-Schienen war medizinisch notwendig. Die Beklagte hat nach der Einholung des gerichtlichen Sachverständigengutachtens zuletzt im Ergebnis nicht mehr bestritten, dass die kieferorthopädische Behandlung gemäß dem Behandlungsplan medizinisch notwendig und nicht lediglich aus ästhetischen Gründen indiziert war. Der Sachverständige Prof. ... hat in seinem nachvollziehbaren Gutachten vom 31.10.2014 ausgeführt, dass der Befund vor der Therapie deutliche Irregularitäten beinhaltet habe, die die Funktion der Zähne nennenswert beeinträchtigen. Die Beklagte hat daraufhin zwar zunächst lediglich eingeräumt, dass die kieferorthopädische Behandlung „wohl notwendig" gewesen wäre und eine ergänzende Anhörung des Sachverständigen beantragt. Später hat die Beklagte aber die Behandlung im Grundsatz anerkannt, indem sie mit Abrechnungsschreiben vom 26.05.2015 einen Teil der klägerseits eingereichten Rechnungen erstattet hat. Das Gericht versteht dieses Verhalten dahingehend, dass die Beklagte an dem Einwand der fehlenden medizini¬chen Notwendigkeit nicht mehr festhält.

bb)
Die Invisalign-Schienen sind als Miniplastschienen im Sinne von Ziffer 933 des Preis- und Leistungsverzeichnisses, Anlage 5, zum Tarif PRIMO anzusehen. Dies ergibt die Auslegung aus der Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers.

Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen kann. Dabei ist im Regelfall auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und auch auf seine Interessen abzustellen (siehe BGH, Urteil vom 10.12.2014, IV ZR 289/13, zitiert nach juris).

Danach kann ein verständiger Versicherungsnehmer den Begriff der Miniplastschienen seinem Wortlaut nach so verstehen, dass es sich um Schienen aus Kunststoff handelt, die „mini", also besonders dünn oder klein, sind. Bei den Invisalign-Schienen handelt es sich aber unstreitig um dünne Schienen aus transparentem Kunststoff.

Etwas anderes könnte gelten, wenn der Begriff der Miniplastschienen ein feststehender kieferorthopädischer Fachbegriff wäre, der ausschließlich für ganz bestimmte Schienen mit ganz bestimmten Indikationen verwendet wird. Dies trägt aber auch die Beklagte nicht vor. Zwar führt die Beklagte zunächst noch - unter Bezugnahme auf die Erläuterung der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Berlin, Anlage B 11 - aus, dass Miniplastschienen beim Knirschen und Pressen mit den Zähnen angewendet würden. Später trägt sie jedoch vor, dass Miniplastschienen mehrere Funktionen haben könnten, z. B: Entspannungsschiene, Stabilisierungs- oder Retentionsschiene nach kieferorthopädischer Behandlung mit festsitzenden Apparaturen, Stabilisierungsschiene nach Kieferfraktur. In den Internetauftritten diverser Zahnärzte sind zahlreiche weitere Funktionen von Miniplastschienen genannt, etwas Zahnschienen zum Auftragen von Bleichgel oder von fluoridhaltigem Gel, Zahnschienen, um eine ungünstige oder gestörte Beziehung der Kiefer zueinander auszugleichen usw. Die Stellungnahme der DGKFO, Stand Januar 2010, Anlage B 14, spricht ebenfalls dafür, dass Invisalign-Schienen unter den Begriff der Miniplastschienen fallen. So heißt es in dieser Stellungnahme nämlich unter anderem „Das Bewegen von Zähnen mit Kunststoffschienen ist grundsätzlich nicht neu. Miniplastschienen, Positioner oder verwandte elastische Geräte werden seit Jahrzehnten mit Erfolg zur Stabilisierung des Behandlungsresultats und zur Durchführung geringgradiger Zahnstellungskorrekturen eingesetzt." Die DGKFO geht also davon aus, dass Miniplastschienen auch zur Zahnstel-lungskorrektur eingesetzt werden können. Der Begriff „Miniplastschiene" wird also auch nach dem Vortrag der Beklagten nicht nur für Miniplastschienen mit Funktionen außerhalb von Zahnfehlstellungskorrekturen verwendet. Ein Sachverständigengutachten war deshalb nicht einzuholen. Die Frage, wie ein Begriff nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers auszulegen ist, muss nicht durch einen Sachverständigen geklärt werden.

Der verständige Versicherungsnehmer kann auch nicht davon ausgehen, dass Invisalign-Schienen - wie die Beklagte meint - deshalb keine Miniplastschiene seien, weil Invisalign-Schienen ausschließlich zur kieferorthopädischen Korrektur von Zahnfehlstellungen und nicht für mehrere Zwecke anwendbar seien. Dies ist dem Wortlaut nicht immanent, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Anwendung und Herstellung von Invisalign-Schienen mit nicht unerheblichem Aufwand verbunden sei. Welcher Herstellungsaufwand erforderlich ist, lässt sich dem Begriff nicht entnehmen. Zudem beruht die Herstellung auf dem gleichen Grundprinzip. Die herkömmlichen Miniplastschienen werden nach der Abformung des Kiefers durch einen Zahntechniker oder im zahntechnischen Labor im Vakuum-Tiefziehverfahren aus dünnen Kunststoffbasisplatten hergestellt. Die Invisalign-Schienen werden ebenfalls auf der Basis von Kieferabformungen (aus Silikon) erstellt, allerdings mit Hilfe einer computergestützten, dreidimensionalen Simulation, weil eine Mehrzahl von Schienen erforderlich ist, aber nur zu Beginn der Behandlung eine Kieferabformung erstellt wird.

Der Begriff „Invisalign"-Schienen bezeichnet speziell die von der Firma ... her
gestellten Schienen. Diese spezielle Bezeichnung schließt aber nicht aus, dass es sich um Miniplastschienen handelt. So können sowohl Einwegtaschentücher der Marke Tempo als auch solche der Marke Kleenex unter den Oberbegriff Papiertaschentücher gefasst werden. Dass das Preis- und Leistungsverzeichnis lediglich Oberbegriffe verwendet und nicht die speziellen markenrechtlichen Bezeichnungen der Schienen einzelner Hersteller, ist naheliegend, weil sonst eine Vielzahl einzelner Schienenbezeichnungen hätte aufgenommen werden müssen.

Dass Miniplastschienen im Sinne des Preis- und Leistungsverzeichnisses nicht nur solche sind, die bei Knirschen und Pressen der Zähne indiziert sind, ergibt sich schon daraus, dass die Knirscherschiene unter der Ziffer 931 gesondert neben der Miniplastschiene unter der Ziffer 933 aufgelistet ist.

Die Beklagte hätte es in der Hand, ihr Preis- und Leistungsverzeichnis so zu formulieren, dass aus Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers eindeutig ist, dass bestimmte Schienen nicht vom Leistungsumfang umfasst sein sollen, z. B. durch die Formulierung „Miniplastschiene, mit Ausnahme von ..." Solange keine derartige Einschränkung erfolgt, darf der verständige Versicherungsnehmer davon ausgehen, dass auch die Kosten für Invisalign-Schienen erstattet werden, wenn eine entsprechende Behandlung medizinisch notwendig ist.

Dies steht nicht im Widerspruch zur Privatautonomie. Die Parteien können selbstverständlich regeln, dass einzelne Leistungen nicht von einem bestimmten, günstigeren Tarif umfasst sind. Im vorliegenden Fall hat sich die Klägerin auch bewusst für eine Leistungsbegrenzung entschieden, nämlich für die Erstattung nur bestimmter, einzeln aufgezählter zahntechnischer Leistungen nach Anlage 5 der Versicherungsbedingungen. Gleichwohl durfte die Klägerin davon ausgehen, dass die im Preis- und Leistungsverzeichnis aufgezählten Positionen auch erstattet werden, also auch Miniplastschienen ohne Beschränkung auf eine bestimmte medizinische Indikation.

cc)
Die Klägerin kann auch die Kosten für alle (54) Invisalign-Schienen im tariflichen Umfang, also zu 75 %, verlangen, das sind 75 % von EUR 1.878,49, mithin EUR 1.408,86, und nicht nur Kosten von einer Schiene bzw. von zwei Schienen (eine je Ober- und Unterkiefer).

Die kieferorthopädische Behandlung ausweislich des kieferorthopädischen Behandlungsplans des Dr. ... sah die Behandlung mit Invisalign-Schienen vor. Das Konzept beruht darauf, dass die Schienen immer nur kurzzeitig getragen werden, weil die Zahnstellung in kleinen Schritten korrigiert wird. Demzufolge werden für Ober- und Unterkiefer eine bestimmte Anzahl von Schienen benötigt. Dieses Behandlungskonzept ist medizinisch notwendig, wie die Beklagte letztlich eingeräumt hat. Dann ist grundsätzlich auch die erforderliche Anzahl an Schienen - hier 54 - als medizinisch notwendig anzusehen.

Das Gericht folgt nicht der Auffassung der Beklagten, dass aufgrund der Formulie-rung „Miniplastschiene" im Singular im Preis- und Leistungsverzeichnis lediglich eine Schiene zu EUR 34,79 zu erstatten sei. Zwar trifft es zu, dass im Preis- und Leistungsverzeichnis sämtliche Positionen im Singular formuliert sind. Das bedeutet aber nicht, dass jede Position insgesamt nur einmal zu erstatten ist, wobei sich dann die Frage stellen würde, in welchem Zeitraum dies gelten soll. Wäre nach Auffassung der Beklagten eine Miniplastschiene für den Oberkiefer wegen Pressens der Zähne neben einer Miniplastschiene zum Aufbringen von Medikamenten auf den Unterkiefer ersatzfähig? Außerdem sind auch andere Positionen mehrfach zu erstatten, wenn dies medizinisch notwendig ist. So kann Ziffer 454 des Preis- und Leistungsverzeichnisses (ein Inlay aus Presskeramik einflächig) dann mehrfach abgerechnet werden, wenn mehrere Inlays in verschiedenen Zähnen medizinisch notwendig sind. Auch diese Abrechnung wird nicht durch die Auflistung des Inlays im Singular im Preis- und Leistungsverzeichnis gehindert. Die Beklagte hat ihre Leistungs-pflicht für kieferorthopädische Maßnahmen in den Versicherungsbedingungen der Höhe nach dadurch begrenzt, dass für Aufwendungen innerhalb eines Kalenderjahres bestimmte Rechnungshöchstbeträge festgelegt sind, siehe Ziffer II. 2.4 der Versicherungsbedingun-gen zum Tarif PRI-MO, Anlage B 2, z. B. insgesamt EUR 5.000,00 im 1. bis 5. Kalenderjahr. Wenn die Beklagte die Ersatzfähigkeit einzelner Positionen aus dem Preis- und Leistungsverzeichnis hätte beschränken wollen, hätte sie dies ausdrücklich formulieren können, etwa dergestalt, dass pro Jahr nur eine Schiene oder eine bestimmte Anzahl von Schienen erstattungsfähig ist. Da sie dies im vorliegenden Fall aber nicht getan hat, durfte die Klägerin als verständige Versicherungsnehmerin davon ausgehen, dass die medizinisch notwendige Anzahl von Miniplastschienen zum Preis von höchstens EUR 61,89 pro Schiene erstattet wird. Denn aufgrund der Formulierung „Miniplastschiene" im Singular im Preis- und Leistungsverzeichnis ist der Höchstbetrag („erstattungsfähig bis") auch als der für eine Schiene anfallende Betrag zu verstehen. Im vorliegenden Fall kosten die Schienen pro Stück EUR 34,79 und damit weniger als die im Preis- und Leistungsverzeichnis angegebenen EUR 61,89.

b)
Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 BGB (Rechtshängigkeitszinsen).

c)
Die Klägerin hat ferner Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten, aller-dings nur in Höhe von EUR 492,54 unter dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes, §§ 286, 280 BGB. Die Beklagte hatte zu Unrecht die medizinische Notwendigkeit der Maßnahmen gemäß kieferorthopädischem Behandlungsplan von Dr. ... vom 27.02.2013 abgelehnt, und zwar zunächst gegenüber der Klägerin selbst, wie sich aus dem Rechtsanwaltsschreiben vom 06.11.2013, Anlage K 2, ergibt. Daher durfte sich die Klägerin eines Rechtsanwalts zur weiteren Interessenwahrnehmung bedienen. Die Kosten sind allerdings nur nach einem Gegenstandswert von EUR 4.083,69 zu ersetzen. Denn das Kosteninteresse der Klägerin war von vornherein nur auf 75 % der im kieferorthopädischen Behandlungsplan ausgewiesenen Kosten gerichtet, da der von ihr gewählte Tarif nur die Erstattung der Aufwendungen für kieferorthopädische Maßnahmen zu 75 % vorsieht. Das ergibt einen Betrag von 1,3mal EUR 303,00, zuzüglich Pauschale und Umsatzsteuer, insgesamt EUR 492,54 vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten.

d)
Der Zinsanspruch auf die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten folgt, soweit diese zugesprochen worden sind, aus §§ 291, 288 BGB (Rechtshängigkeitszinsen). Im Übrigen entfällt die Zinsforderung mit dem Anspruch auf Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren, soweit der Anspruch abgewiesen worden ist.

III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die anteilige Kostentragungspflicht der Klägerin folgt daraus, dass das Gericht die ursprünglich erhobene Feststellungsklage für unzulässig hält. Der Wert, um den die Feststellungsklage die Leistungsklage überstiegen hat, geht folglich zu Lasten der Klägerin. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und auch der Instanzgerichte sind Feststellungsklagen zulässig, wenn die Feststellung ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis in dem Sinne betrifft, dass die zwischen den Parteien des Rechtsstreits bestehenden Beziehungen schon zur Zeit der Klageerhebung wenigstens die Grundlage bestimmter Ansprüche bilden. Das ist der Fall, wenn das Begehren nicht nur auf künftige, mögliche, sondern auf bereits aktualisierte, ärztlich für notwendig erachtete, bevorstehende Behandlungen gerichtet ist. Außerdem muss ein Feststellungsinteresse dahingehend bestehen, dass durch ein Feststellungsurteil eine sachgemäße und erschöpfende Lösung des Streits über die Erstattungspflicht zu erwarten ist (BGH Urteil vom 08.02.2006, IV ZR 131/05, zitiert nach juris, m. w. N). Ob sich im Verlauf der Behandlung einzelne Schritte nicht (mehr) als medizinisch notwendig und damit nicht abrechnungsfähig erweisen sollten, ist davon unabhängig und berührt die Zulässigkeit des Feststellungsbegehrens der Klägerin nicht (BGH a. a. O.). Das Feststellungsinteresse ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Behandlung bereits begonnen hat und einzelne Rechnungen vorliegen, solange die Behandlung noch nicht insgesamt abgeschlossen ist.

Nach diesen Maßstäben fehlte im vorliegenden Fall das Feststellungsinteresse, denn von einem Feststellungsurteil war gerade keine sachgemäße und erschöpfende Lösung des Streits zu erwarten. Die Parteien haben von vornherein nicht nur über die Frage der medizinischen Notwendigkeit der kieferorthopädischen Maßnahmen gestritten und auch nicht nur über einzelne Behandlungsschritte (dies würde nach der Rechtsprechung das Feststellungsinteresse nicht entfallen lassen, siehe z. B. BGH, a. a. O.). Vielmehr hat die Beklagte auch vorprozessual immer die Auffassung vertreten, dass die Invisalign-Schienen nicht vom Tarif PRIMO umfasst seien. Die Kosten für die Schienen sollten nach dem kieferorthopädischen Behandlungsplan etwa EUR 1.950,00 betragen, also mehr als ein Drittel der Gesamtkosten. Den Streit darüber hätte aber ein Feststellungsurteil nicht beigelegt. Eine erschöpfende Lösung des Streits war nicht zu erwarten, sondern es war von vornherein absehbar, dass die Frage des Tarifumfangs in einer Leistungsklage würde geklärt werden müssen. Dies zeigt letztlich auch die erfolgte Umstellung der Feststellungsklage in eine Leistungsklage, nachdem die Beklagte im Rahmen ihrer Abrechnung die Erstattungsfähigkeit der Kosten für die Invisalign-Schienen abgelehnt hat.

IV.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt für die Vollstreckung der Klägerin aus § 709 S. 1 und 2 ZPO, für die Vollstreckung der Beklagten aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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