Das Übersehen einer apikalen Parodontitis nicht immer ein Behandlungsfehler

 | Gericht:  Oberlandesgericht (OLG) Dresden  | Aktenzeichen: 4 U 1777/20 | Entscheidung:  Beschluss
Kategorie Schadenersatzrecht , Sonstiges

Urteilstext

 

Tenor


1. 
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen.


2. 
Die Klägerin hat Gelegenheit, innerhalb von zwei Wochen Stellung zu nehmen. Sie sollte allerdings auch die Rücknahme der Berufung in Erwägung ziehen.


3. 
Der Termin zur mündlichen Verhandlung vom 12.01.2021 wird aufgehoben.


4. 
Es ist beabsichtigt, den Gegenstand des Berufungsverfahrens auf 13.000,00 EUR festzusetzen.

 

Gründe


Der Senat beabsichtigt, die zulässige Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch - einstimmig gefassten - Beschluss zurückzuweisen. Die zulässige Berufung der Klägerin bietet in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Auch andere Gründe gebieten eine mündliche Verhandlung nicht.


Zu Recht hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Der Klägerin steht gegen den Beklagten kein Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aus §§ 280 ff, 823 Abs. 1, 249, 253 BGB zu. Zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass der Klägerin der Beweis für eine fehlerhafte Behandlung, die den Verlust der Zähne 46 und 47 zur Folge hatte, nicht gelungen ist. Auf die Ausführungen des Landgerichts Zwickau in seinem Urteil vom 08.07.2020 wird Bezug genommen.
Das Berufungsvorbringen der Klägerin rechtfertigt keine andere Beurteilung.


1. 
Dem Beklagten kann nicht vorgeworfen werden, dass er am 01.09.2009 die bei der Klägerin vorhandene apikale Parodontitis an den Zähnen 46 und 47 nicht erkannt hat. Der Beklagte hat aus der OPG-Aufnahme vom 31.08.2009 am Zahn 47 Karies diagnostiziert und eine Überkronung der beiden Zähne empfohlen. Es liegt eine objektive Fehldiagnose vor. Die Auffassung der Klägerin, es liege keine Fehldiagnose, sondern eine unterlassene Diagnosefeststellung vor, führt in der Sache zu keinem anderen Ergebnis. Mit dem Landgericht ist davon auszugehen, dass dies keinen Behandlungsfehler darstellt. Grundsätzlich ist zwar das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome als Behandlungsfehler zu werten (vgl. Senat, Beschluss vom 29.07.2019 - 4 U 1078/19 - juris). Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind jedoch oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern können auf verschiedene Ursachen hinweisen. Auch kann jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden (vgl. BGH, Urteil vom 08.07.2003 - VI ZR 304/02 - juris; Senat, Beschluss vom 29.07.2019 - 4 U 1078/19 - juris; vgl. Senat, Urteil vom 15.05.2018 - 4 U 248/16 - juris). Die Wertung einer objektiv unrichtigen Diagnose als Behandlungsfehler setzt die vorwerfbare Fehlinterpretation erhobener Befunde oder die Unterlassung für die Diagnosestellung oder ihre Überprüfung notwendiger Befunderhebungen voraus (vgl. BGH, Urteil vom 08.07.2003 - VI ZR 304/02 - juris). Im vorliegenden Fall hat der Sachverständige eine vorwerfbare Fehlinterpretation verneint. Maßgeblich ist hierbei die Sicht ex-ante. Der Sachverständige erklärte, dass erst auf dem Zahnfilm der Praxis H... vom 02.07.2010 die periapikale Aufhellung im gesamten Bereich des Zahnes 47 deutlich zu erkennen und damit die Rückinterpretation der periapikalen Befunde auf den Röntgenbildern vom 31.08.2009 und 06.04.2010 leichter gewesen sei. Die Qualität der Röntgenaufnahmen vom 31.08.2009 und 06.04.2010 lasse demgegenüber für sich genommen eine genaue Interpretation nicht zu. Ihm sei der Befund zwar bei der ersten Durchsicht aufgefallen. Er habe jedoch vier Kollegen die OPG-Aufnahmen vorgelegt und drei von vieren hätten den entsprechenden Befund erkannt, einer hingegen nicht. Darüber hinaus habe auch der MDK-Gutachter diese Vorerkrankung nicht entdeckt. Auch die Nachbehandlerin H... hätte die Erkrankung nicht festgestellt, denn sie habe noch in dem Bereich 45, 47 eine Brücke geplant. Darüber sei der Zahn 47 bei den Vitalitätsproben positiv gewesen sei. Werde ein Zahn als vital eingeschätzt, so rechne man nicht mit einer apikalen Parodontitis. Denn dann wäre eher zu erwarten gewesen, dass die Vitalitätsprobe negativ verlaufe. Daher kam der Sachverständige zu dem überzeugenden Schluss, dass für ihn die Grenze zu einem vorwerfbaren Diagnosefehler bei der Auswertung des OPG vom 31.08.2009 i.S. einer unvertretbaren Fehlleistung unter Berücksichtigung des damaligen Erkenntnisstandes nicht überschritten sei. Ohne Erfolg beanstandet die Klägerin in der Berufung, dass das Landgericht den Ausführungen des Sachverständigen gefolgt sei. Die Ausführungen des Sachverständigen sind gut begründet und plausibel nachvollziehbar. Die Klägerin zeigt weder Widersprüchlichkeiten in den Ausführungen des Sachverständigen auf noch werden substantiiert Fehler gerügt.


Unabhängig davon ist der Klägerin der Beweis dafür, dass selbst bei zutreffender Diagnosestellung der Klägerin die Extraktion der Zähne 46 und 47 erspart geblieben und damit ein kausaler Gesundheitsschaden bei der Klägerin nicht eingetreten wäre, nicht gelungen. Hierzu führte der Sachverständige aus, dass bei Erkennen der apikalen Parodontitis am 01.09.2009 die einzig denkbare Behandlungsalternative eine Wurzelkanalbehandlung gewesen wäre mit den damit verbundenen zusätzlichen Risiken und Gefahren. Ob diese Maßnahme letztlich von Erfolg gekrönt gewesen wäre, sei rein spekulativ. Beide Zähne seien zu diesem Zeitpunkt bereits vorgeschädigt gewesen und es lasse sich nicht abschätzen, ob eine Wurzelkanalbehandlung zu diesem Zeitpunkt die Extraktion der Zähne erspart hätte. Es gäbe zwar in einer Vielzahl von sonstigen Fällen Erfolgswahrscheinlichkeiten von etwa 75 - 80 %, allerdings könne man hieraus die individuellen Besonderheiten des Einzelfalles nicht ableiten. Eine konkrete Aussage lasse sich hierzu letztendlich seriös nicht treffen.
Die von dem Beklagten durchgeführten Maßnahmen hat der Sachverständige als nicht fehlerhaft bewertet.


2. 
Auch wenn der Sachverständige beanstandet hat, dass Anfang September 2009 eine Aufklärung über notwendige therapeutische Interventionen gefehlt habe, liegt kein Aufklärungsfehler über Behandlungsalternativen vor. Unterliegt der Arzt einem vertretbaren Diagnosefehler - hier über das Vorliegen einer apikalen Parodontitis - und klärt er deshalb den Patienten objektiv falsch über die Therapiemöglichkeiten und alternativen Behandlungsmethoden auf, so stellt sich das als eine (in sich richtige) Folge eines haftungsrechtlichen irrelevanten Irrtums dar (vgl. Senat, Urteil vom 21.08.2020 - 4 U 1349/18 - juris; Geiß/Greiner, in Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., C Rn. 24). Stellt sich die Fehlerhaftigkeit einer Diagnose nicht als vorwerfbar dar, kann darauf auch keine Haftung wegen eines Aufklärungsversäumnisses hergeleitet werden, weil es jedenfalls am notwendigen Verschulden fehlt (so Senat, a.a.O.; vgl. OLG Köln, Urteil vom 03.11.1997 - 5 U 98/97 - juris).


3. 
Ob dem Beklagten am 06.04.2010 ein unvertretbarer Diagnoseirrtum unterlaufen ist, weil er einen Verdacht auf einen Speichelstein hatte und die Klägerin deshalb zu einem Hals-Nasen-Ohrenarzt überwies, die apikale Parodontitis indes nicht erkannt hat, kann dahinstehen, denn nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen war dieser Fehler nicht ursächlich für die Extraktion der Zähne 46 und 47. Zu diesem Zeitpunkt waren die Zähne nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht mehr zu retten. Der Diagnosefehler sei für den späteren Behandlungsverlauf bedeutungslos gewesen.


Ohne Erfolg beanstandet die Klägerin, dass der Taschenabszess, welcher bei entsprechendem Verlauf für sie hätte lebensgefährlich werden können, durch den Beklagten Ende März/Anfang April 2010 nicht erkannt worden sei und das Landgericht hierzu keinen Beweis erhoben habe. Denn die Klägerin hat durch diesen behaupteten Behandlungsfehler keinen Gesundheitsschaden erlitten. Sie hat nicht behauptet, sich in einem lebensgefährlichen Zustand befunden zu haben. Sie war am 03.04.2010 in der Zahnarztpraxis H... in Behandlung, wo ein Taschenabszess diagnostiziert und in der Folgezeit auch behandelt worden ist.


Der Senat rät aus den vorstehenden Gründen zu einer Rücknahme der Berufung, die zwei Gerichtsgebühren spart.


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