Beweislast bei Hygienemängeln

 | Gericht:  Oberlandesgericht (OLG) Koblenz  | Aktenzeichen: 5 U 1711/05 | Entscheidung:  Urteil
Kategorie Schadenersatzrecht

Urteilstext

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bad Kreuznach vom 18. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.

 

Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen den Beklagten als Gesamtschuldnern zur Last.

 

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können jedoch die Zwangsvollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit in entsprechender Höhe stellt.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin suchte am 9. Juni 1999 wegen einer Halsstarre die orthopädische Arztpraxis der Beklagten zu 3) und zu 4) auf, in der seinerzeit die Beklagten zu 1) und zu 2) als Vertreter Dienst hatten. Sie erhielt dort von dem Beklagten zu 1) eine Injektion in den Nacken. Zwei Tage darauf geschah dies erneut. Am 15. Juni 1999 setzte der Beklagte zu 2) eine Spritze. Spätestens unmittelbar danach stellten sich bei der Klägerin im Nackenbereich von Schüttelfrost und Schweißausbrüchen begleitete Schmerzen ein. Deshalb wurde der Ehemann der Klägerin am 18. Juni 1999 bei dem Beklagten zu 4) vorstellig. Dieser gab ihm eine Salbe mit.

 

Am 22. Juni 1999 erschien die Klägerin persönlich. Der Beklagte zu 4) verschrieb ihr zunächst Tabletten. Als ihm am Folgetag das Ergebnis einer Blutuntersuchung vorlag, wies er sie in ein Krankenhaus ein. Bei der Klägerin hatte sich ein Spritzenabszess gebildet, der nunmehr geöffnet und dann behandelt wurde. Das geschah bis zum 6. Juli 1999 stationär und anschließend, überwiegend in der Praxis der Beklagten zu 3) und zu 4), ambulant. In den Jahren 2000 und 2001 kam es zu erneuten Klinikaufenthalten, denen die Unterbringung in einer Rehabilitationseinrichtung nachfolgte.

 

Die Klägerin, die ursprünglich einen Catering-Betrieb geleitet hatte, übte ihren Beruf im Anschluss an die Spritzenbehandlung von Juni 1999 zunächst längerfristig nicht mehr aus. Von Mitte Oktober bis Ende Dezember 1999 und von Mitte Mai 2000 bis Mitte Februar 2001 arbeitete sie wieder, ehe sie ihre Tätigkeit dauerhaft einstellte. Sie ist ihrer Darstellung nach, bedingt durch anhaltende Schmerzen, die sich vom Nacken bis in den Kopf erstrecken, Schlafstörungen und eine Depressivität, arbeitsunfähig. Dies alles führt sie auf den Spritzenabszess zurück.

 

Der Abszess beruhte auf einer Staphylokokken-Infektion, die sich die Klägerin über die Injektionen in der Praxis der Beklagten zu 3) und zu 4) zugezogen hatte. Gleichartige Infektionen traten zeitnah bei zahlreichen anderen Patienten der Praxis auf, davon die ersten Fälle am 2., 8. und 10. Juni 1999. Ausgangsträger der maßgeblichen Keime war nach dem übereinstimmenden Vortrag die angestellte Arzthelferin S… H…, die bei der Verabreichung der Spritzen durchweg assistierte. Das ist auch die Erkenntnis eines Untersuchungsberichts des Gesundheitsamts, das die Beklagten zu 3) und zu 4) Mitte Juni 1999 informierten. Der Bericht rügt verschiedene Hygienemängel in der Praxis.

 

Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Klägerin die Beklagten jeweils nebst Zinsen auf die Zahlung einer materiellen Schadensersatzleistung von 11.610 Euro, durch die insbesondere eigene Einkommenseinbußen und Aufwendungen des Ehemanns für "Betreuungsfahrten" ausgeglichen werden sollen, und eines mit 25.000 Euro bezifferten Schmerzensgelds in Anspruch genommen und außerdem die Feststellung deren weitergehender materieller und immaterieller Haftung erstrebt. Sie hat ihnen unter Hinweis auf den Untersuchungsbericht des Gesundheitsamts Nachlässigkeiten in der Praxishygiene vorgeworfen und angelastet, zu spät auf die bei anderen Patienten und schließlich auch bei ihr selbst aufgetretenen Infektionssymptome reagiert zu haben.

 

Das Landgericht hat im Hinblick auf die zwischen den Parteien streitige Kausalität des Spritzenabszesses für die von der Klägerin geltend gemachten Dauerschäden ein orthopädisches und ein psychiatrisch-neurologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Nach deren Ergebnis gibt es für die vorgetragenen Beschwerden im Nacken- und Kopfbereich keine somatische Erklärung. Der psychiatrisch-neurologische Sachverständige hat die Auffassung vertreten, dass die Klägerin aufgrund einer Fehlverarbeitung des Abszesses und der ihn primär effektiv begleitenden Schmerzen eine psychogene Schmerzsymptomatik und eine Depressivität entwickelt habe, die in Wechselwirkung zueinander stünden und die sozial-kommunikative Kompetenz einschränkten.

 

Vor diesem Hintergrund hat das Landgericht der Klägerin in einem Teil- und Grundurteil ein Schmerzensgeld von 25.000 Euro nebst Zinsen zugesprochen sowie die grundsätzliche Berechtigung ihrer bezifferten und unbezifferten materiellen Ersatzforderungen festgestellt; den auf immateriellen Ersatz gerichteten Feststellungsantrag hat es abgewiesen. Es hat gemeint, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch für die von der Klägerin erlittenen Beeinträchtigungen einstehen müssten, weil es nach den Feststellungen des Gesundheitsamts vorwerfbare Hygienemängel in der Praxis gegeben habe, auf die sich die Infektion der Klägerin möglicherweise ursächlich zurückführen lasse. Unsicherheiten in der Beweislage gingen zu Lasten der Beklagten, da sich die Schädigung aus ihrem Verantwortungsbereich entwickelt habe. Die Ersatzpflicht der Beklagten beziehe sich auch auf den jetzigen Krankheitszustand der Klägerin, da er Folge der ärztlichen Fehlbehandlung sei.

 

Diese Entscheidung greifen die Beklagten mit der Berufung an. Sie erstreben die Abweisung der Klage. Dabei verweisen sie darauf, dass der Schaden der Klägerin nicht auf irgendwelchen Hygienemängeln, sondern allein auf der Infektion der Arzthelferin S… H… beruhe, die für sie nicht erkennbar gewesen sei. Darüber hinaus sei der Ursachenzusammenhang zwischen dem Spritzenabszess und der gegenwärtigen psychischen Erkrankung der Klägerin nicht hinreichend anamnestisch belegt.

 

Demgegenüber verteidigt die Klägerin die erstinstanzliche Entscheidung, auf die zur näheren Darstellung des Sachverhalts ebenso wie auf die Gerichtsakten im Übrigen einschließlich deren Anlagen Bezug genommen wird.

 

II.

Das Rechtsmittel ist unbegründet. Das Landgericht hat die Beklagten zu Recht gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB a.F. zu einer Schmerzensgeldleistung von 25.000 Euro nebst Rechtshängigkeitszinsen verurteilt sowie zutreffend deren grundsätzliche materielle Ersatzpflicht unter deliktischen und, was die Beklagten zu 3) und zu 4) anbelangt, zudem unter vertraglichen Gesichtspunkten festgestellt.

 

1.

Es ist außer Streit, dass der Spritzenabszess der Klägerin aus deren Behandlung in der Praxis der Beklagten zu 3) und zu 4) herrührt, in der Anfang/Mitte Juni 1999 die Beklagten zu 1) und zu 2) als Vertreter verantwortlich tätig waren. Darüber hinaus steht, wie auch die Berufungsbegründungsschrift aufzeigt, ebenfalls außer Frage, dass es deshalb zu dem infektiösen Geschehen kam, weil die Arzthelferin S... H... Träger des Bakterium Staphylokokkus aureus war und dieses Bakterium – aus welchen Gründen auch immer – mittels einer Injektion auf die Klägerin übertragen werden konnte.

 

a)

Für dieses Geschehen haften die Beklagten grundsätzlich. Ihr - verschuldensbezogener – Einwand, für sie sei die Infizierung S... H...s nicht erkennbar gewesen, ist rechtlich ebenso unerheblich wie die – kausalitätsbezogene – Erwägung, die Keimübertragung könne in einer Weise vor sich gegangen sein, dass es auch in Anwendung aller zumutbaren Präventivmaßnahmen unmöglich gewesen wäre, sie zu verhindern. Anknüpfungspunkt für die Einstandspflicht der Beklagten ist nämlich, wie das Landgericht zutreffend gesehen hat, ein generell unzulängliches Hygienemanagement, das sich die Beklagten im Sinne einer Fahrlässigkeit zurechnen lassen müssen. In der Folge kommt es dann nicht mehr darauf an, ob die vorhandenen Versäumnisse die Schädigung der Klägerin tatsächlich ausgelöst oder begünstigt haben. Vielmehr reicht hin, dass sich dies nicht ausschließen lässt, weil der bakterielle Übertragungsweg in seinen einzelnen Etappen nicht feststellbar ist und darüber nur spekuliert werden kann.

 

Richtig ist, dass sich die Infizierung eines Patienten aus dem Bereich einer Arztpraxis heraus nicht als haftungsrechtlich relevanter Vorgang darstellt, wenn die Keimübertragung auch bei Beachtung der hygienisch gebotenen Vorsorge unvermeidbar war. Eine absolute Keimfreiheit von Ärzten und des ihnen assistierenden Personals ist nicht zu erreichen, und die Wege, auf denen sich Keime verbreiten, entziehen sich einer umfassenden Kontrolle. Deshalb gehören Keimübertragungen, die sich unter nicht beherrschbaren Umständen vollziehen und trotz Einhaltung aller hygienischen Gebote ereignen, zum Krankheitsrisiko des Patienten, für das eine Entschädigung nicht gefordert werden kann. Verwirklicht sich dieses Risiko, fehlt es an einer vertragswidrigen oder, deliktisch gesprochen, rechtswidrigen Gesundheitsverletzung (BGH NJW 1991, 1541, 1542; OLG Zweibrücken NJW-RR 2004, 1607).

 

Sind allerdings Hygienegebote nicht oder nicht mit der notwendigen Sorgfalt beachtet worden, ergibt sich eine veränderte Beurteilung. Dann besteht keine Veranlassung, den Arzt von einer Haftung freizustellen und den Patienten unter rechtlichen Gesichtspunkten mit dem Risiko einer eingetretenen Infektion zu belasten. Andernfalls würde er, der den Praxisbetrieb im Einzelnen nicht überschauen kann, einer nicht behebbaren Beweisnot ausgesetzt (BGH, aaO). Deshalb ist es unter derartigen Umständen Sache des Arztes, den Beweis dafür zu erbringen, dass der Patient gleichermaßen geschädigt worden wäre, falls es keinerlei Hygienemängel gegeben hätte, und daher eine davon unabhängige Kausalkette bestand. Das gilt zumindest dann, wenn eine solche alternative Schadensentstehung keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für sich hat (vgl. auch BGH VersR 1972, 834, 835; BGH VersR 1981, 131, 132 f.). So verhalten sich die Dinge auch hier.

 

b)

Nach den Darlegungen im erstinstanzlichen Urteil genügten die Hygienevorkehrungen in der Praxis der Beklagten zu 3) und zu 4) nicht den Anforderungen. Das Landgericht hat insoweit zahlreiche Gesichtspunkte herausgestellt (S. 6 und 7 des Urteils); darauf wird Bezug genommen. Die insoweit getroffenen tatsächlichen Feststellungen begegnen keinen rechtserheblichen Zweifeln (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Sie beruhen auf den Erkenntnissen des vom Gesundheitsamt gefertigten Untersuchungsberichts, die sich ihrerseits auf mehrere Ortsbesichtigungen, die Befragung von Patienten und des Praxispersonals sowie auf Rücksprachen mit Arzneimittelherstellern und Materiallieferanten stützen. Insofern handelt es sich um verlässliche Erhebungen, die das Landgericht seiner Entscheidung auch ohne eine förmliche Beweisaufnahme zugrunde legen durfte, nachdem sie die Klägerin zum Gegenstand ihres Vortrags gemacht hat (§ 286 Abs. 1 ZPO). Es kommt hinzu, dass bestimmte Gegebenheiten, die der Untersuchungsbericht rügt, von den Beklagten gar nicht in Abrede gestellt worden sind.

 

So ist unstreitig geblieben, dass klare Hygienepläne fehlten und mündliche Hygieneanweisungen längerfristig nicht erteilt worden waren; die Beklagten haben dazu lediglich bemerkt, dass ihre Arzthelferinnen durch erfahrene Fachkräfte und unter ärztlicher Kontrolle eingearbeitet worden seien. Außer Frage steht auch, dass Desinfektionsmittel weithin nicht in ihren Originalbehältnissen aufbewahrt, sondern umgefüllt wurden, von vier überprüften Alkoholen zwei verkeimt waren und Durchstechflaschen mit Injektionssubstanzen über mehrere Tage hinweg Verwendung fanden. Darüber hinaus ist unwidersprochen, dass ein Flächendesinfektionsmittel mit einer langen Einwirkungszeit zur Hautdesinfektion eingesetzt wurde. Der – aus den Angaben der Arzthelferinnen abgeleitete und durch einen Hinweis auf die örtlichen Verhältnisses untermauerten – Kritik des Untersuchungsberichts, es sei nicht üblich gewesen, vor dem Aufziehen einer Spritze die Hände zu desinfizieren, sind die Beklagten allein mit dem Vortrag begegnet, "beim Setzen einer Spritze alle Hygienemaßnahmen eingehalten" zu haben. In ähnlicher, wenig substantiierter Weise haben sie die weitere Rüge, hygienesensible Arbeitsflächen seien statt einmal am Tag nur einmal in der Woche desinfiziert worden, mit dem Bemerken abgetan, man habe eine Desinfektion "bei Bedarf täglich" vorgenommen.

 

Wären die im Untersuchungsbericht festgehaltenen Unzulänglichkeiten nicht gewesen, hätte die reelle Möglichkeit bestanden, die Infizierung der Klägerin zu vermeiden. Es ist ohne Weiteres denkbar, dass es dann nicht zu einer Kontamination der Spritzen gekommen wäre. Das machen der Untersuchungsbericht des Gesundheitsamts und die Sachverhaltsbewertung durch das Landgericht deutlich, der sich der Senat anschließt,

 

2.

Mithin müssen die Beklagten für die Beeinträchtigungen, die die Klägerin infolge des Spritzenabszesses erlitten hat, aufkommen. Das rechtfertigt die Verurteilung zu der vom Landgericht zuerkannten Schmerzensgeldleistung und die Feststellung ihrer grundsätzlichen Haftung für die von der Klägerin bezifferten materiellen Schäden und darüber hinaus mögliche weitere materielle Einbußen.

 

a)

Es ist unstreitig, dass der Spritzenabszess mit Nacken- und Kopfschmerzen, Schüttelfrost sowie Schweißausbrüchen verbunden war und den operativen Eingriff vom 23. Juni 1999 erforderte, der dann einen stationären Aufenthalt bis zum 6. Juli 1999 nach sich zog. Dabei blieb die Operationswunde zunächst zur Behandlung offen. Nachdem sie vernäht worden war, musste sie am 7. Juli 1999 wegen einer Eiteransammlung neu eröffnet werden und wurde im Hinblick darauf dann langfristig nicht wieder verschlossen.

 

Der damit verbundenen ambulanten Behandlung folgte vom 3. bis zum 21. Januar 2000 ein erneuter Klinikaufenthalt nach, der – wie die Aufnahmediagnose besagt – durch eine chronisch rezidivierende Schmerzsymptomatik im Nackenbereich mit Berührungsempfindlichkeit veranlasst war. Danach suchte die Klägerin zur weiteren Therapie ein Rehabilitationszentrum auf, ehe wiederum ambulante Maßnahmen in Form von Akupunkturen, Infusionen und der Verabreichung von Schmerzmitteln nachfolgten. Mit dem Befund von Kopf- und Nackenschmerzen sowie einer Depression war die Klägerin dann abermals vom 28. August bis zum 13. September 2001 sowie – für Rehabilitationsmaßnahmen – vom 4. Dezember 2001 bis zum 11. Januar 2002 stationär untergebracht.

 

Die Klägerin leidet auch heute noch – woran für den Senat nach den Beschreibungen durch die beiden vom Landgericht befragten Sachverständigen, den Orthopäden Dr. F... und den Psychiater Prof. Dr. G..., kein vernünftiger Zweifel bestehen kann – unter anhaltenden ziehenden und stechenden Schmerzen im Nacken- und Kopfbereich, die sich bis in das Gesicht hinein erstrecken. Das schränkt ihre Beweglichkeit ein. Außerdem besteht, wie Prof. Dr. G... attestiert hat, eine starke Depressivität.

 

b)

Angesichts der nach alledem dauerhaften Schmerzzuständen, die von immer wieder neuen sowohl stationären als auch ambulanten Therapieversuchen begleitet worden sind, und der außerdem seit geraumer Zeit bestehenden seelischen Beeinträchtigungen ist das vom Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld nicht zu hoch bemessen. Genauso wenig kann die grundsätzliche Berechtigung des bezifferten materiellen Schadensersatzanspruchs in Zweifel gezogen werden, der auf den Ausgleich von Aufwendungen und Einbußen in der Zeit vom 22. Juni 1999 bis zum 31. Dezember 2001 abhebt, deren schadensbedingte Entstehung die Beklagten, jedenfalls was den Anfangszeitraum betrifft, teilweise auch gar nicht in Abrede stellen. Schließlich erweist sich im Hinblick auf die ungewisse zukünftige Entwicklung auch die landgerichtliche Entscheidung, die Haftung der Beklagten für sonstige, bisher nicht konkret eingeklagten Schäden der Klägerin zu bejahen, als richtig.

 

Die Beklagten wenden vergeblich ein, dass der Zustand der Klägerin, so wie er sich gegenwärtig und bereits seit geraumer Zeit darstellt, nicht mehr auf den Spritzenabszess zurückgeführt werden könne, sondern andere, von ihnen nicht zu verantwortende Ursachen haben müsse. Allerdings gibt es nach den übereinstimmenden Feststellungen von Dr. F... und Prof. Dr. G... für die Beschwerden der Klägerin keine somatische Erklärung. Es handelt sich dabei weder um infektiöse Erscheinungen, die sich mit der ursprünglichen Verkeimung erklären ließen, noch um Folgewirkungen von Verletzungen bei der operativen Eröffnung des Abszesses. Aber das lässt die Verantwortlichkeit der Beklagten nicht entfallen.

 

Prof. Dr. G... hat nämlich aufgezeigt, dass das Leiden der Klägerin in seiner Schmerzstörung und in seiner Depressivität die Folge einer psychischen Fehlentwicklung ist, die durch den Spritzenabszess und dessen Behandlung ausgelöst wurde. Das Leiden hat sich verselbständigt und chronifiziert. Dafür müssen die Beklagten einstehen. Es ist anerkannt, dass sich die Verantwortlichkeit für eine körperliche Schädigung, wie sie hier bei den Beklagten liegt, auch auf seelische Reaktionen des Geschädigten wie insbesondere psychogene Schmerzempfindungen und Depressionen erstreckt, selbst wenn die wesentlich durch eine seelische Labilität mitbestimmt sind (Heinrichs in Palandt, BGB, 65. Aufl., vor § 249 Rdnr. 69 m.w.N.). Anders ist es nur, wenn es sich um in keiner Weise mehr nachvollziehbare Überreaktionen oder um Ausprägungen einer Rentenneurose handelt (Heinrichs, a.O. Rdnr. 70 f.). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Von einer völlig unangemessenen Erlebnisverarbeitung der Klägerin kann keine Rede sein, weil der Spritzenabszess primär einschneidende somatische Folgen hatte und einen langen Krankenhausaufenthalt nach sich zog; und eine Rentenneurose hat Prof. Dr. G... nach der Untersuchung der Klägerin ausdrücklich ausgeschlossen.

 

Die Erwägung der Beklagten, die aktuelle Beschwerdesituation der Klägerin beruhe möglicherweise auf einer Vorerkrankung und dieserhalb müssten breitflächig ärztliche Behandlungsunterlagen aus der Zeit vor Juni 1999 ausgewertet werden, trägt nicht. Sie ist in ihrer Ausgangsannahme rein spekulativ und ohne tatsächlichen Anknüpfungspunkt. Demgegenüber stützten sich die Feststellungen Prof. Dr. G...s außer auf eine eingehende Befragung der Klägerin auf objektive biographische Daten und dabei auch auf ärztliche Befunde, die vor dem Spritzenabszess erhoben wurden. So ist in seinem schriftlichen Gutachten überzeugend ausgeführt: "Es besteht aus meiner Sicht kein Anhaltspunkt dafür, dass es bereits vor Entwicklung des Abszesses im Nackenbereich erhebliche psychische Störungen gegeben hat. (Die Klägerin) war voll und erfolgreich in ihre berufliche Tätigkeit eingebunden, war in ihrer Freizeit aktiv; insofern ist also der kausale Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Abszesses im Nackenbereich mit nachfolgender Behandlung und dem jetzt zu sehenden Störungsbild aus psychiatrisch- neurologischer Sicht evident. Hinweise für anderweitige Ursachen für das Schmerzsyndrom finden sich auf psychiatrisch-neurologischem Gebiet nicht; dies wurde sowohl von mir jetzt wieder festgestellt als auch schon von anderen Vorgutachtern bzw. Behandlern.".

 

Als Prof. Dr. G... dann bei seiner Anhörung durch das Landgericht Altbefunde vorgehalten wurden, die aus der Praxis der Beklagten zu 3) und zu 4) herrührten, bemerkte er: "Das, was ich in dieser Aufstellung sehe, ist im Kern das, was ich meiner Beurteilung auch zu Grunde gelegt habe. Aus den jetzt von mir eingesehenen ärztlichen Unterlagen ergibt sich, dass körperliche Symptome eher in bagatellartiger Form vorgelegen haben, die behandelt worden sind. Der Zustand bei der Klägerin hat sich aber im Zuge dieser ‚Quaddel-Behandlung’ massiv verändert. Sie leidet jetzt, wie ich ausgeführt habe, unter einer deutlich depressiv gefärbten somatoformen Schmerzstörung. Ergänzend will ich noch darauf hinweisen, dass die Klägerin bis zum Entstehen des Spritzenabszesses voll im Berufsleben gestanden hat. Sie ist nicht wieder in ihren Beruf zurückgekehrt und erleidet jetzt massive Beeinträchtigungen."

 

3.

Da die streitige Beschwerdesymptomatik der Klägerin nach alledem den Beklagten insgesamt zugerechnet werden muss, ist das angefochtene Urteil des Landgerichts mit der Kostenfolge der §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO und dem Vollstreckbarkeitsausspruch der §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO aufrechtzuerhalten.

 

Die Revision wird zugelassen. Die grundsätzliche Ausgangsüberlegung dieses Urteils, im Falle feststehender, möglicherweise schadensursächlicher ärztlicher Hygienefehler sei nicht der Patient dafür beweispflichtig, dass der Schaden bei Wahrung der gebotenen Hygiene vermieden worden wäre, sondern es sei umgekehrt Sache des Arztes, den Beweis zu erbringen, dass der Schaden unter diesen Umständen ebenso eingetreten wäre, ist durch die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht abgesichert. Die Ausführungen in der vom Senat zitierten Entscheidung BGH NJW 1991, 1541 sprechen teilweise sogar gegen sie (S. 1543).

 

Hinsichtlich des Berufungsstreitwerts verbleibt es beim Beschluss vom 10. Februar 2006. 


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