Berufsrechtlicher Überhang

 | Gericht:  Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen  | Aktenzeichen: 6t E 757/18.T | Entscheidung:  Urteil
Kategorie Ausübung des zahnärztlichen Berufs , Sonstiges

Beschlusstext


Tenor

Der angefochtene Beschluss wird geändert.

 

Auf den Antrag der Antragstellerin vom 13. Oktober 2016 wird das berufsgerichtliche Verfahren vor dem Berufsgericht für Heilberufe bei dem Verwaltungsgericht Köln eröffnet.

 

Dem Beschuldigten wird zur Last gelegt, als Kammermitglied Berufspflichten verletzt zu haben, indem er im Zeitraum vom 6. Juli 2005 bis 10. Mai 2010 in insgesamt 572 Rechnungen an einem Behandlungstag erbrachte Sonographieleistungen zum Teil unter einem fiktiven Behandlungstag abgerechnet hat, um so die in Ziff. 420 GOÄ geregelte Beschränkung der Abrechnungsfähigkeit der Untersuchung von maximal drei Organen pro Sitzung zu umgehen. Hierbei ist ein Schaden von 79.765,52 Euro entstanden.

 

- Verstoß gegen § 29 Abs. 1 des Heilberufsgesetzes (HeilBerG) i.V.m. §§ 2 Abs. 2, 12 Abs. 1 der Berufsordnung (BO) für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte vom 14. November 1998 (MBl. NW 1999 S. 350) in der Fassung vom 20. November 2004 (MBl. NRW. 2005 S. 562), zuletzt geändert am 21. November 2015 (MBl. NRW. 2016 S. 148), i. V. m. § 1 Abs. 1 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) -

 

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten.

 

Gründe

I.

Der am 30. Januar 1959 geborene Beschuldigte ist Facharzt für Innere Medizin. Zu seinem Leistungsspektrum zählt die Durchführung von Ultraschalluntersuchungen bei Privatpatienten gemäß Ziffern 401 bis 420 GOÄ.

 

Nach Ziffer 420 GOÄ können Ultraschalluntersuchungen von bis zu drei weiteren Organen im Anschluss an eine Ultraschalluntersuchung nach den Nummern 410 bis 418 abgerechnet werden. Die untersuchten Organe sind in der Rechnung anzugeben. Die Leistung nach Nummer 420 kann je Sitzung höchstens dreimal berechnet werden.Erfolgen in einer Sitzung Ultraschalluntersuchungen von mehr als drei Organen, sind die über diese Anzahl hinausgehenden Ultraschalluntersuchungen nicht abrechnungsfähig. Um diese in der Gebührenordnung vorgesehene Beschränkung zu umgehen, erstellte der Beschuldigte Abrechnungen über Sonographieleistungen auch für Tage, an denen die Patienten tatsächlich nicht untersucht worden waren.

 

Aufgrund einer Anzeige eines Patienten vom 26. Oktober 2009 leitete die Staatsanwaltschaft Köln gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen Abrechnungsbetrugs ein (115 Js 773/09). Gegenstand des Ermittlungsverfahrens war das Abrechnungsverhalten des Beschuldigten im Zeitraum vom 6. Juli 2005 bis zum 10. Mai 2010. Am 1. August 2012 erhob die Staatsanwaltschaft Köln gegen den Beschuldigten Anklage wegen gewerbsmäßigen Betruges in 572 Fällen mit einem Gesamtschadensbetrag von 79.765,52 Euro.

 

Von der Anklageerhebung setzte die Staatsanwaltschaft Köln die Antragstellerin mit Schreiben vom 8. August 2012 in Kenntnis. In der Hauptverhandlung am 6. November 2012 räumte der Beschuldigte den Sachverhalt ein. Durch Beschluss des Amtsgerichts C. - Schöffengericht - vom 6. November 2012 (43 Ls 45/12) wurde das Verfahren gemäß § 153a Abs. 2 StPO gegen Zahlung eines Geldbetrags in Höhe von 45.000,- Euro sowie der Zahlung von weiteren insgesamt 45.000,- Euro an sechs verschiedene gemeinnützige Einrichtungen zunächst vorläufig eingestellt. Die endgültige Einstellung erfolgte am 6. November 2013. Mit Schreiben vom 10. Februar 2014 unterrichtete die Staatsanwaltschaft L. die Antragstellerin von der endgültigen Einstellung des Verfahrens. Nach Anhörung des Beschuldigten beschloss der Vorstand der Antragstellerin am 7. September 2016, gegen den Beschuldigten den Antrag auf Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens bei dem Berufsgericht für Heilberufe zu stellen.

 

Die Antragstellerin hat mit am 13. Oktober 2016 beim Berufsgericht eingegangenen Schriftsatz die Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens beantragt. Sie legt dem Beschuldigten zur Last, durch sein Verhalten seine Berufspflichten verletzt zu haben, indem er die ihm als Arzt obliegende Verpflichtung nicht erfüllt habe, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben, dem ihm bei der Berufsausübung entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen (§ 2 BO) und für die Berechnung die Amtliche Gebührenordnung für Ärzte zugrunde zu legen. Der Beschuldigte habe in Kenntnis der Tatsache gehandelt, dass die Abrechnungsweise nicht statthaft sei. Er habe damit wiederholt vorsätzlich die Berufsordnung verletzt. Die strafrechtliche Verurteilung sei nicht ausreichend. Es gebe einen berufsrechtlichen Überhang, der noch zu ahnden sei.

 

Der Beschuldigte hat den Sachverhalt eingeräumt, aber eingewandt, eine berufsrechtliche Maßnahme sei mit Blick auf den verstrichenen Zeitraum nicht mehr gerechtfertigt und im Übrigen neben der bereits verhängten strafrechtlichen Sanktion auch nicht erforderlich.

 

Das Berufsgericht hat mit Beschluss vom 18. Juli 2018 die Eröffnung des berufsgerichtlichen Verfahrens abgelehnt, weil sich ein berufsrechtlicher Überhang nicht (mehr) feststellen lasse. Da die Berufspflichtverletzungen bereits zwischen acht und dreizehn Jahre zurücklägen und der Beschuldigte seitdem berufsrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten sei, sei weder eine berufsrechtliche Disziplinierung des Beschuldigten erforderlich, noch sei es nötig, einer etwaigen Minderung des Ansehens der Ärzteschaft entgegenzuwirken oder verlorenes Vertrauen der Öffentlichkeit in die Ärzteschaft wiederherzustellen.

 

Die Antragstellerin hat gegen den ihr am 7. August 2018 zugestellten Beschluss am 14. August 2018 sofortige Beschwerde eingelegt. Zur Begründung führt sie aus, der berufsrechtliche Überhang sei nicht wegen des zwischenzeitlich verstrichenen Zeitraums entfallen. Während des laufenden Strafverfahrens sei sie gehindert, die Angelegenheit berufsrechtlich zu verfolgen. Sie habe nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens am 19. Mai 2015 Akteneinsicht beantragt und den Beschuldigten am 27. August 2015 angehört. Dieser habe am 29. Januar 2016 Stellung genommen. Die Entscheidung des Vorstands am 7. September 2016 halte sich im üblichen Zeitrahmen. Die weitere Zeitverzögerung beruhe auf der Dauer des berufsgerichtlichen Verfahrens.

 

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

 

den angefochtenen Beschluss des Berufsgerichts zu ändern und das berufsgerichtliche Verfahren zu eröffnen.

 

Der Beschuldigte beantragt,

 

die sofortige Beschwerde zurückzuweisen,

 

und verteidigt den angegriffenen Beschluss des Berufsgerichts.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.

 

II.

Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 105 Abs. 1 und 2 lit. a HeilBerG i.V.m. §§ 210 Abs. 2, 311 StPO zulässig und auch in der Sache begründet. 

 

Das berufsgerichtliche Verfahren ist zu eröffnen, weil der Beschuldigte durch das ihm zur Last gelegte Verhalten einer Berufspflichtverletzung gemäß § 29 Abs. 1 HeilBerG i. V. m. §§ 2 Abs. 2, und 12 Abs. 1 BO i. V. m. § 1 Abs. 1 GÖÄ verdächtig ist.

 

Der Verfahrenseröffnung steht entgegen der Auffassung des Berufsgerichts für Heilberufe kein Verfahrenshindernis entgegen. Denn ein berufsrechtlicher Überhang, d. h. ein Bedürfnis für eine zusätzliche berufsrechtliche Disziplinierung neben der strafrechtlichen Sanktion, liegt vor.

 

Das Erfordernis eines berufsrechtlichen Überhangs ist - anders als in vergleichbaren Regelwerken anderer Bundesländer, vgl. beispielsweise § 50 Abs. 3 Hess. HeilBerG, Art. 67 Abs. 3 bay. HKaG - im nordrhein-westfälischen HeilBerG nicht ausdrücklich geregelt, aber gleichwohl allgemein anerkannt.

 

Vgl. etwa Landesberufsgericht für Heilberufe beim OVG NRW, Beschluss vom 20. April 2016 - 6t E 928/14.T -, medstra 2016, 360 = juris Rn. 100, und Urteil vom 29. Januar 2003 - 6t A 1039/01.T -, juris Rn. 44; OVG Bremen, Urteil vom 2. August 2017 - 10 LD 278/14 -, juris Rn. 65 f.; eingehend Willems, Der berufsrechtliche Überhang, in: Arbeitsgemeinschaft Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im Deutschen Anwaltverein, Berlin, und Institut für Rechtsfragen der Medizin, Düsseldorf (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen im Medizinstrafrecht, 2017, 39 ff.

 

Bei der Beurteilung der Frage, ob neben der grundsätzlich ausreichenden strafrechtlichen Sanktion eine berufsrechtliche Ahndung erforderlich ist, sind alle Umstände des jeweiligen Einzelfalls in den Blick zu nehmen. Hierzu gehören auch, aber nicht nur, die von dem Berufsgericht herangezogenen Aspekte: die Schwere der Tat, die Einsicht des Beschuldigten in sein Fehlverhalten, sein Verhalten in der Zwischenzeit und die sich daraus ergebende Prognose hinsichtlich seines künftigen berufsrechtmäßigen Verhaltens, und schließlich das Erfordernis, einer etwaigen Minderung des Ansehens der Ärzteschaft entgegenzuwirken oder verlorenes Vertrauen der Öffentlichkeit in die Ärzteschaft wiederherzustellen. Des Weiteren ist aber auch zu berücksichtigen, inwieweit die Tat den Kernbereich der Berufstätigkeit betraf, und ob eine Ahndung aus generalpräventiven Erwägungen erforderlich ist.

 

Die anhand dieser Kriterien vorzunehmende Abwägung ergibt ein Bedürfnis für eine zusätzliche berufsrechtliche Disziplinierung. Zwar ist zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen, dass er die Vorwürfe umfassend eingeräumt, sich einsichtig gezeigt hat und in der Zwischenzeit augenscheinlich nicht erneut berufsrechtlich in Erscheinung getreten ist, so dass sich das individuelle Pflichtenmahnungsbedürfnis als weniger gewichtig darstellen mag. Für eine weitere berufsrechtliche Ahndung sprechen jedoch der lange Zeitraum seines betrügerischen Abrechnungsverhaltens, die erhebliche Höhe des hierbei entstandenen Schadens sowie der Umstand, dass sich das Fehlverhalten wenn auch nicht auf den Kernbereich der ärztlichen Tätigkeit im engeren Sinn, so doch auf deren wirtschaftlichen Komplementärbereich bezieht. Die betrügerische Abrechnung ärztlicher Leistungen - hier in gravierendem Umfang - beeinträchtigt nachhaltig die für die ärztliche Tätigkeit unverzichtbare Vertrauensbasis und lässt negative Auswirkungen auf das Ansehen der Ärzteschaft insgesamt befürchten.

 

Bay. VGH, Urteil vom 8. November 2011 - 21 B 10.1543 -, juris Rn. 39.

 

Diese Gegebenheiten sind trotz des großen Zeitabstands zur letzten Tathandlung weiterhin geeignet, das Ansehen der Ärzteschaft zu schädigen. Nicht zuletzt ist eine berufsrechtliche Ahndung aus generalpräventiven Gründen erforderlich, um einer - nach Einschätzung des Beschuldigten weit verbreiteten - rechtswidrigen Abrechnungspraxis entgegen zu wirken bzw. vorzubeugen.


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