Urteilstext
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 10. Zivilkammer des LG Koblenz vom 29.11.2002 geändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 6.000 Euro nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 17.7.2002 zu zahlen.
2. Die in zweiter Instanz erhobene Feststellungsklage wird abgewiesen.
3. Die erstinstanzlichen Kosten hat der Beklagte zu tragen.
Von den Kosten des Berufungsverfahrens fallen dem Kläger 1/7 und dem Beklagten 6/7 zur Last.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger nimmt den beklagten Zahnarzt auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 6.000 Euro in Anspruch. Daneben begehrt er erstmals in zweiter Instanz die Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche materiellen und immateriellen Zukunftsschäden aus einer zahnärztlichen Behandlung vom 23.8.1999 zu ersetzen.
An diesem Tag wollte der Beklagte beim Kläger die Füllung eines Backenzahnes erneuern. In Vorbereitung des Eingriffs sollte dem Kläger ein Betäubungsmittel gespritzt werden. Eine Aufklärung über die Risiken einer Leitungsanästhesie unterblieb. Beim Einstich oder der anschließenden Applikation des Betäubungsmittels kam es zu einer Beeinträchtigung des nervus lingualis. In der Folgezeit stellten sich beim Kläger persistierende Beschwerden und Ausfälle im Bereich der Injektionsstelle und der rechten Zungenhälfte ein.
Dazu hat der Kläger vorgetragen, der Beklagte habe durch den Einstich mit der Spritze den nervus lingualis dauerhaft geschädigt. Bei Aufklärung über dieses Risiko hätte er seine Einwilligung in die Injektion verweigert.
Der Beklagte hat bestritten, dass die Beschwerden des Klägers auf die Injektion zurückzuführen seien. Sehe man das anders, sei eine Aufklärung wegen des äußerst geringen Risikos einer dauerhaften Nervenschädigung entbehrlich gewesen. Im Übrigen müsse von einer hypothetischen Einwilligung des Patienten ausgegangen werden.
Das LG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, einer Aufklärung habe es nicht bedurft. Beim Kläger habe sich ein extrem seltenes Risiko verwirklicht; eine Aufklärung sei daher entbehrlich gewesen. Dazu hat das LG auf die in VersR 1999, 1500 abgedruckte Entscheidung des OLG Stuttgart verwiesen.
Mit der Berufung wiederholt der Kläger die Rüge unterbliebener Aufklärung. Auch über seltene Risiken müsse ein Arzt den Patienten aufklären. Dies gelte erst Recht, wenn dauerhaft verbleibende Beeinträchtigungen zu befürchten seien. In Kenntnis des Risikos hätte er die Füllung des Backenzahns ohne Anästhesie erneuern lassen.
Der Beklagte trägt vor, die vom Kläger behaupteten Beeinträchtigungen und Beschwerden lägen nicht vor, jedenfalls hätten sie ihrer Ursache nicht in der Leitungsanästhesie. Zu Recht habe das LG angesichts des geringen Risikos eine Aufklärung für entbehrlich gehalten. Auch bei früheren Behandlungen sei dem Kläger eine Leitungsanästhesie verabreicht worden. Das indiziere seine hypothetische Einwilligung. Hinsichtlich der in zweiter Instanz erhobenen Feststellungsklage erhebt der Beklagte die Verjährungseinrede.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Neurologen Dr. L. nebst Zusatzgutachten des Neurophysiologen Privatdozent Dr. S. Auf die Ausführungen der Gutachter wird verwiesen (Blatt 122-163 GA). Zur Frage der hypothetischen Einwilligung ist der Kläger vom Senat angehört worden; auf die Sitzungsniederschrift vom 29.4.2004 wird Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung hat Erfolg, soweit der Kläger ein Schmerzensgeld begehrt (1.). Die in zweiter Instanz erhobene Feststellungsklage musste dagegen abgewiesen werden (2.).
1.
Zur Zahlung eines Schmerzensgeldes ist der Beklagte nach §§ 823 Abs. 1, 847 BGB verpflichtet. Der zahnärztliche Eingriff vom 23.8.1999 hat zu einer fortbestehenden Körperschädigung des Klägers geführt. Da die gebotene Aufklärung über die Risiken der Leitungsanästhesie unterblieben ist, war die ärztliche Maßnahme nicht von einer Einwilligung des Klägers gedeckt und daher rechtswidrig. Der eingetretene Schaden rechtfertigt ein Schmerzensgeld von 6.000 Euro
Im Einzelnen:
Der Einstich oder die Leitungsanästhesie, die der Beklagte in Vorbereitung der beabsichtigten Erneuerung der Füllung des Backenzahnes vorgenommen hat, führte zwar nicht zu einer Durchtrennung, jedoch zu einer erheblichen und dauerhaften Schädigung des nervus lingualis des Klägers. Das steht fest auf Grund der beiden im Berufungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten, gegen die der Beklagte nichts Entscheidungserhebliches erinnert hat.
Dass der Kläger über das Risiko einer derartigen Schädigung nicht aufgeklärt wurde, ist zwischen den Parteien unstreitig.
Der vom LG gebilligten Auffassung des Beklagten, einer Aufklärung habe es angesichts der geringen Risikodichte nicht bedurft, kann nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, dass über extrem seltene Risiken, die zudem nicht zu einer dauerhaften Schädigung des Patienten führen können, nicht aufgeklärt werden muss. Sind jedoch Dauerschäden zu besorgen, kann es im Rahmen der stets erforderlichen Grundaufklärung auch geboten sein, den Patienten über sehr seltene Risiken zu informieren, wenn sie bei ihrer Verwirklichung die Lebensführung schwer belasten und trotz ihrer Seltenheit für den Eingriff spezifisch und für den Laien überraschend sind (vgl. Stöhr, MedR 2004, 156 [158] m.w.N.). Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist nicht ein bestimmter Grad der Risikodichte, insb. nicht eine bestimmte Statistik. Maßgebend ist vielmehr, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet (vgl. BGH v. 7.7.1994 - III ZR 52/93, BGHZ 126, 386 [389] = MDR 1995, 585; BGH v. 21.11.1995 - VI ZR 341/94, MDR 1996, 261 = VersR 1996, 330 [331]).
Der erkennende Senat vertritt daher die Ansicht, dass grundsätzlich auch über derartige, äußerst seltene Risiken aufzuklären ist (ebenso für den Fall der Leitungsanästhesie zur Schmerzausschaltung OLG Hamm AHRS 4800/12). Soweit der vom LG bemühten Entscheidung des OLG Stuttgart (ebenso OLG Zweibrücken v. 22.2.2000 - 5 U 25/99, OLGReport Zweibrücken 2000, 549 = VersR 2000, 892) eine andere Auffassung zugrunde liegt, steht das nicht in Einklang mit der zitierten und nach Auffassung des Senats überzeugenden Rechtsprechung des BGH. Da eine Schädigung oder gar Durchtrennung des nervus lingualis je nach Alter, Beruf und sozialer Stellung des Patienten die Lebensführung erheblich beeinträchtigen kann, hält der Senat eine Aufklärung über dieses äußerst seltene, jedoch schwerwiegende Risiko für unerlässlich.
Dabei wird nicht verkannt, dass der 3. Zivilsenat des OLG Koblenz in seinem Urt. vom 22.9.1987 (OLG Koblenz, Urt. v. 22.9.1987 - 3 U 1632/86, AHRS 1050/40) die Frage offen gelassen, jedoch gemeint hat, in derartigen Fällen sei der ärztliche Eingriffe von einer hypothetischen Einwilligung gedeckt, wenn der Patient (dort ein Gesangslehrer) bereits bei früheren Behandlungen entsprechende Injektionen erhalten habe.
Dementsprechend weist auch der Beklagte des vorliegenden Verfahrens darauf hin, der Kläger habe schon bei vorhergehenden Zahnbehandlungen gegen die jeweils erfolgte Leitungsanästhesie keine Einwände erhoben.
Diese Argumentation ist nach Auffassung des erkennenden Senats nicht stichhaltig. Hat der Patient eine ärztliche Maßnahme wiederholt in Unkenntnis eines bestimmten Risikos vornehmen lassen, besteht bei ihm keinerlei Problembewusstsein, wenn das Risiko sich bei den jeweiligen Eingriffen nicht verwirklicht hat. Die Auffassung, das Einverständnis mit den früheren, folgenlosen Eingriffen indiziere die Einwilligung in die fehlgeschlagene Maßnahme, wäre nur dann tragfähig, wenn den früheren Betäubungen eine ordnungsgemäße Risikoaufklärung vorausgegangenen wäre. Derartiges hat der Beklagte nicht aufgezeigt.
Vor diesem Hintergrund ist in einer insb. die Schwere, Dringlichkeit und Alternativen des jeweiligen Eingriffs thematisierenden Anhörung des Patienten zu klären, ob er auch nach ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt hätte. Das ist hier zu verneinen. Die Leitungsanästhesie war vom Beklagten nur zur Schmerzausschaltung vorgesehen. Die Bereitschaft und Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, ist individuell sehr verschieden. Der Kläger hat bei seiner Anhörung dem Senat plausibel machen können, dass er bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem Entscheidungskonflikt gestanden und sich gegen die Leitungsanästhesie entschieden hätte. Das reicht aus, um eine hypothetische Einwilligung zu verneinen. Dass die entscheidenden Richter sich in einer entsprechenden Konfliktlage möglicherweise anders entschieden hätten, ist unerheblich.
Soweit der Beklagte im nachgelassenen Schriftsatz behauptet, nach dem Zwischenfall habe der Kläger für die gebotene Weiterbehandlung auf einer andernorts applizierten Betäubungsspritze bestanden, was eine mutmaßliche Einwilligung für den schadensursächlichen ersten Einstich indiziere, ist auch das nicht tragfähig. Denn der Beklagte behauptet nicht, den Kläger vor der zweiten Spritze auf die Gefahr einer dauerhaften Schädigung des nervus lingualis durch den nunmehr anstehenden zweiten Einstich hingewiesen zu haben. Nur wenn der Kläger derart aufgeklärt dem zweiten Einstich zugestimmt hätte, käme die vom Beklagten behauptete hypothetische Einwilligung in Betracht.
Nach alledem war der ärztliche Eingriff nicht von einer Einwilligung des Klägers gedeckt und damit rechtswidrig. Wegen der dauerhaft fortbestehenden Schädigung des nervus lingualis schuldet der Beklagte dem Kläger daher ein Schmerzensgeld.
Dieses hält der Senat mit 6.000 Euro für angemessen (vgl. ADAC, Schmerzensgeldbeträge, 21. Aufl., Nr. 1687 - dort allerdings Durchtrennung des nervus lingualis). Als Verkaufsleiter eines mittelständischen Unternehmens muss der Kläger oft ausgedehnte Kundengespräche führen. Die Gefühlsstörung der rechten Zungen- und Mundhöhlenhälfte mit Mundtrockenheit empfindet er dabei als erhebliche Beeinträchtigung. Auch bei sonstigen Gesprächen stört die irreparable Schädigung des rechten nervus lingualis. Andererseits ist zu sehen, dass den Beklagten kein schwerwiegendes Verschulden trifft.
Der Zinsausspruch beruht auf §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2, 247 BGB.
2.
Dem denkbaren Anspruch des Klägers auf Feststellung einer weiteren Schadensersatzpflicht steht die Verjährungseinrede entgegen. Der Beklagte ist berechtigt, die Leistung zu verweigern (§ 214 BGB). Die dreijährige Verjährungsfrist (§ 852 BGB a.F.) begann unmittelbar nach dem Schadensereignis im Jahr 1999. Die erst im Juni 2003 erhobene Feststellungsklage ist daher verspätet.
3.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1, 708 Nr. 10 ZPO.
Es besteht kein Anlass, die Revision zuzulassen. Die Frage, ob bei äußerst seltenen, jedoch die Lebensführung dauerhaft beeinträchtigenden Risiken eine Aufklärungspflicht des Arztes besteht, ist in der Rechtsprechung des BGH hinreichend geklärt. Dass es davon abweichende obergerichtliche Entscheidungen gibt, rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 7.000 Euro